#1

Wintertraum

in Ausgezeichnete Lyrik 20.09.2006 22:27
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Wintertraum

Mit Augen, wandelnd losgebunden, seh
ich dich in meinem Arm, leicht angelehnt
an einen Baum, der angeschlagen auf
dir stützt, die Zweige voll von schwerem Schnee.
Ich lösche diesen Blick, der nichts ersehnt,
und träum, du klettertest zu mir herauf.

So folgt die Nacht, die schwarz wie Rauch ersteigt,
uns kalt in ihrem dunklen Bauch versenkt
und blindend jede Aus- und Einsicht raubt.
Merkst du, wie gnadenlos die Stille schweigt,
dein Herz nicht einen Laut wie Blattwerk fängt,
das sonst so wirr von meiner Krone staubt?


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#2

Wintertraum

in Ausgezeichnete Lyrik 01.10.2006 19:09
von Gemini • Long Dong Silver | 3.094 Beiträge | 3130 Punkte
Ahoi GW

Das Gedicht lässt sich für meine Begriffe doch sehr schwer lesen. Bitte verlange jetzt keine metrische Analyse. Davon hast du natürlich mehr Ahnung, aber ich musste einige Passagen zweimal und sogar dreimal lesen um den Rhytmus zu finden.
Sprachlich gefällt es mir wieder sehr gut. Da ich dich aber als Profi einschätze, wirst du mir wohl erklären bei welchen Zeilen es Probleme gegeben hat. Zum Beispiel erste auf die zweite Zeile, betone ich das "seh" und stocke gleich darauf bei "meinem", weil ich das "ich am Anfang der zweiten Zeile ebenfalls betone. Was ist das dann? Ein Trochäus? Ach scheiß drauf.
Also:

Erste Strophe letzte Zeile,
xXxXxXxXxX
xXxXxXxXxx

Wenn man es xt, dann ist es in Ordnung, aber das Wort "klettertest" kann man beim ersten Lesen nur ausgesprochen schwierig richtig betonen.

Natürlich sind dies nur Aufschlüsselungen eines Novizen, aber vielleicht habe ich ja durch Zufall etwas aufgedeckt.

Bis denne

Griazi Gem

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#3

Wintertraum

in Ausgezeichnete Lyrik 02.10.2006 12:40
von Mattes | 1.141 Beiträge | 1141 Punkte
Nein, metrisch ist hier alles in Ordnung und dass es nicht so locker-flockig von der Zunge perlt, mag daran liegen, dass mit den Enjambements und der Aufgabe, nicht immer und ausschließlich am Zeilenende zu pausieren, der ungeübte Rhetor überfordert ist. Stilistisch anspruchsvoll, die vermeintlich schlichten Reime durch die Verschränkung des Kreuzreims aufgewertet, der (leider nur fast) völlige Verzicht auf Elisionen, Ellipsen und/oder sonstige Verschiebungen und Verkrümmungen ergeben ein ästhetisches Vergnügen, chapeau!

Hier ist nicht der Löwe im Winter, sondern der Dichter, das lyrische Ich, als beladener, angeschlagener Baum, der sich auf seine Muse stützt, dem träumt, sie stiege zu ihm herauf. Tut sie es oder nicht, ich bin etwas uneins. Ich denke, eher nicht. Es folgt konsequenterweise die Nacht, dem Dichter geht das Licht und die Sprache aus. Das ist alles sehr poetisch ausgedrückt, ich bin mir nicht sicher, wie genau im Einzelnen es gemeint sein mag. Es zeigt sich mir nur, dass, wenn es sprachlich auf hohem Niveau ist, ich als Leser sehr geneigt bin, mir meinen Teil zu denken. Ich teile also die Gefühle des lyrischen Ich, dass die Stille gnadenlos schweigt, wenn und solange ihn die Muse nicht küsst. Nur sonst, sonst staubt es eben nicht wirr, hier jedenfalls ganz sicher nicht.

Gute Arbeit, GerateWohl, rundum überzeugend. Einziger Schönheitsfehler ist eben dieses „träum“ in S1Z6. Finde das mäkelig und inkonsequent (weil ich dir das „seh“ in S1Z1 nachsehe), doch bedenke, dass ich es ansonsten perfekt finde.

DG
Mattes

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#4

Wintertraum

in Ausgezeichnete Lyrik 02.10.2006 18:06
von DOCC (gelöscht)
avatar
Hallo GerateWohl,
es klingt groß, es singt groß und macht mich ziemlich klein, weil: ich stehe am Bahnsteig und der Zug fährt an mir vorbei...
Es mag handwerklich, technisch, metapherisch, allegorisch und was weiß ich absolute Sahne sein - aber ich habe Lyrik nicht studiert.
Vielleicht gerade deshalb mein ehrlicher Respekt.
Liebe Grüße von
DOCC

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#5

Wintertraum

in Ausgezeichnete Lyrik 03.10.2006 18:40
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Gem, Mattes, DOCC,

vielen Dank für Eure Kommentare.

@Gem: Ich glaube eigentlich hier metrisch recht präzise gearbeitet zu haben. Ich habe mich sehr über das Lob der Sprache gefreut.

@Mattes: Ebenso bei Dir. Vielen Dank für die detaillierte Interpretation, die im Großen und Ganzen meine Intention trifft. Der Dichter fühlt sich verstanden, gelobt und zum Bäumeausreißen. Danke dafür. ...und für die Nominierung.
Das mit dem "träum" kann ich ebenso nachvollziehen wie nicht ändern, obwohl ich solche Bastelübungen ja mag. Aber ich fürchte, besser krieg ich's nicht hin. Alelrdings finde ich es vor meinem Sprachgefühl auch nicht so schlimm. Wobei es in meinen Ohren schon wesentlich schwächer klingt, wenn meine Freundin "Ich lieb' dich" anstelle von "Ich liebe dich" sagt.

@DOCC: Ja, es ist schon recht metaphorisch und läßt vielleicht die eine oder andere Sinnebene zu. Aber darin liegt für mich bei solchen Gedichten auch gerade der Reiz.
Wenn es Dich trotz Vorbeifahren des Zuges Dich noch zu erfreuen vermochte, freut mich das sehr. Wobei für mich aus Deinem Kommentar nicht recht hervorgeht, ob es das wirklich tat.
Ich hab ja auch keine Lyrik studiert, daher in unstudierter Verbundenheit schöne Grüße.

Danke und viele Grüße Euch.
GerateWohl



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#6

Wintertraum

in Ausgezeichnete Lyrik 12.10.2006 21:39
von Arno Boldt | 2.760 Beiträge | 2760 Punkte
Gratuliere, oller!
Dein Wintertraum wurde das Gedicht des Monats September 2006!





LG,

aBoldt
- Administrator -

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#7

Wintertraum

in Ausgezeichnete Lyrik 12.10.2006 23:43
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte
Lieber, geehrter Herr GeradeWohl!

Erlaube mir , Dir zu diesem Erfolg zu gratulieren!
Möge es Ansporn sein, auch in Hinkunft
schöne lesenswerte Gedichte zu schreiben,
die nicht nur hier den Lesern zur Freude gereichen,
sondern einem großen Kreis der Sprachverständigen.

Wieder ein Stein am Bau eines Denkmals,
dem zukünftige Generationen huldigen sollen!


Joame

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#8

Wintertraum

in Ausgezeichnete Lyrik 13.10.2006 10:43
von Fabian Probst (gelöscht)
avatar
ohne die Erklärung von mattes hätte ich das nicht verstanden.

sie ist in seinem Arm und lehnt sich an, gleichzeitig stützt sie ihn aber auch. Er ist Baum und "ich".

Puh, da kommt man schwer rein.
Aber dann beginnt es zu überzeugen und fließt dahin.

Ein gelungenes Gedicht, das den Dickfisch verdient hat.
Ich glaube aber, dass durch den wirklich schweren Einstieg viele Leser sich verfrüht davon abwenden.

Ich hätte es ohne die Hilfe von mattes getan, weil ich die ersten Zeilen nicht ordnen konnte.

Gruß, Fabian

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