#1

Elbmarsch

in Düsteres und Trübsinniges 22.11.2006 12:04
von Pseudonym (gelöscht)
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Elbmarsch

Ich sehe dich am Hang
und auf den Marschen
rechts und links
mit schwarzen Rindern
auf milchgrünen Wiesen
in nur mehr knöcheltiefem Nebel
vor Kulissen heiler Welt.

Die Luft ist kalt und klar
und hie und da
steigt Hausbrand auf
und in der relativen Ferne
summt der Motor dieser Stadt.

Die Kinder sind zur Schule
und Ehegatten längst
über die Autobahn
zur Hansestadt geeilt
die nur für diesen Zweck
erbaut erscheint.

Die Szenerie
vollkommen friedlich
ich atme durch
gleich ist es Zeit.

Noch kann die Erde
leicht gebrochen werden
und mein Kind
kann sich zur Ruhe legen.

Sein kleines Kraftwerk
ist erloschen.
Jetzt ist es still.
Ich lausche in die Ferne.

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#2

Elbmarsch

in Düsteres und Trübsinniges 22.11.2006 15:22
von Maya (gelöscht)
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Hallo!

Bei dieser Thematik ist man echt am Überlegen, ob ein Kommentar überhaupt angebracht ist. Schön ist das Gedicht nicht, wie könnte es auch? Aber es geht mir nahe, ich halte es für gelungen, weil der Schmerz, den das Ich empfindet, sehr gut transportiert wird, ohne über die Strenge zu schlagen. Ungeachtet dessen, ob nun der Autor immer reimlos schreibt, finde ich es sehr passend, dass an dieser Stelle auf den Reim verzichtet wurde, weil das Gesagte dadurch noch authentischer wirkt. Erst als ich das Ende gelesen hatte, erschloss sich mir auch die erste Strophe, die ich anfangs nicht zu deuten wusste:

Ich sehe dich am Hang
und auf den Marschen
rechts und links
mit schwarzen Rindern
auf milchgrünen Wiesen
in nur mehr knöcheltiefem Nebel
vor Kulissen heiler Welt.


Das Du ist wohl das verstorbene Kind, das das Ich, dabei handelt es sich vermutlich um die Mutter, rechts und links, in knöcheltiefem Nebel sieht, weil es als Geist in ihrem Geist umherwandelt. Obwohl das Kind nicht mehr da ist, begleitet es die Mutter doch auf all ihren Wegen und wird nicht vergessen. Die Welt des Ichs ist nicht mehr heil, nur die der Anderen, für die das Leben ganz normal weitergeht, wie die folgenden Abschnitte zeigen:

Die Luft ist kalt und klar
und hie und da
steigt Hausbrand auf
und in der relativen Ferne
summt der Motor dieser Stadt.


Die Kinder sind zur Schule
und Ehegatten längst
über die Autobahn
zur Hansestadt geeilt
die nur für diesen Zweck
erbaut erscheint.


Die zweite und dritte Strophe unterstreichen, dass das Ich nur noch als Beobachter am Rande der noch funktionierenden Welt fungiert.
Hier ist nicht von den eigenen verbliebenen Kindern die Rede, sondern von denen anderer Eltern, was ich daraus schließe, dass in S3, Zeile 2 von Ehegatten im Plural gesprochen wird. Es ist ein Blick auf den Alltag der anderen Familien, die das Ich hier registriert, auf einen Alltag, den es früher vielleicht selbst so erlebte. Es war selbst mal Teil dieser heilen, friedlichen Welt, die nun zerbrochen ist:

Die Szenerie
vollkommen friedlich
ich atme durch
gleich ist es Zeit.


Dieses Durchatmen lässt schon Ahnen, dass dem Ich etwas Schweres bevorsteht, was diesen scheinbaren Frieden untergräbt. Da atmet auch der Leser schwer durch, weil eine schreckliche Vermutung in ihm aufkeimt.

Noch kann die Erde
leicht gebrochen werden
und mein Kind
kann sich zur Ruhe legen.

Sein kleines Kraftwerk
ist erloschen.
Jetzt ist es still.
Ich lausche in die Ferne.


Und da hat man dann die Bestätigung. Das kleine Kraftwerk, das Herz des Kindes, schlägt nicht mehr, es ist gestorben und wird begraben. Die Erde kann noch leicht gebrochen werden, was auf den Herbst als Jahreszeit schließen lässt, in dem das Unglück geschah.

Beim ersten Lesen, als ich, wie bereits erwähnt, die erste Strophe noch nicht richtig verstand, waren die letzten beiden Strophen ein kleiner Schock, der für mich überraschend kam, v.a. weil im dritten Abschnitt noch von Frieden die Rede ist, der dann so hammerhart durchbrochen wird, indem das Gedicht diese ungeahnte, unglückliche Wendung nimmt.
Ich finde das Gedicht auch gelungen, weil es so leise daherkommt, was der Trauer absolut angemessen ist. Hie und da vermisse ich schon Kommata, die absichtlich weggelassen worden sind, aber sei es drum.

Gruß, Maya

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#3

Elbmarsch

in Düsteres und Trübsinniges 02.12.2006 08:35
von Albert Lau (gelöscht)
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Nachdem das Gedicht nun so vielen Lesern gefallen hat, kann ich mich ja dazu bekennen. Ich tu das vor allem, um mich für den langen und geistreichen Kommentar bedanken zu können. Ich kann dem nur wenig hinzufügen. Ich freue mich, dass das Gedicht leise und doch eindringlich wirkt. Ich kann nie recht beurteilen, ob es nun schwer oder leicht zu erkennen ist, jedenfalls sind alle Bilder in die Richtung gedeutet worden, in die sie auch gedacht waren.

Das Unverständnis der ersten Strophe hat vielleicht (sicherlich) auch damit zu tun, dass es hier um einen bestimmten Platz und um bestimmte Kinder geht, da es leider nicht bei dem einen geblieben ist und nicht bleiben wird. In dem Bemühen, leise Töne anzuschlagen, habe ich nun offenbar zuviel Understatement walten lassen, so dass das hauptsächliche Anliegen des Gedichtes untergegangen ist.

Mag sein, dass das Thema allzu regional ist, um so versteckt erkannt zu werden. Und doch soll es sich um den aktuell weltweit gefährlichsten Platz für diese Art der Mortalität handeln. Durch Titel und doch eher ungewöhnliche Wortwahl in der Abschlussstrophe hoffte ich, den gedanklichen Kreis schließen und den Hinweis verdeutlichen zu können. Diese Hoffnung trog, das Gedicht mag berühren, es versagt dennoch.

Vielen Dank für deinen Kommentar, der mir natürlich dennoch viel bedeutet.

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#4

Elbmarsch

in Düsteres und Trübsinniges 02.12.2006 09:09
von Maya (gelöscht)
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Ach, dann ist wohl kein wirkliches Kind gemeint oder wie? Weißt du, zuerst kam mir der Gedanke, dass es in dem Gedicht eher um Arbeitslosigkeit geht (stillgelegtes Kraftwerk). Leider hast du nun nicht erklärt, worauf du eigentlich hinaus wolltest. Aber musst du ja auch nicht.

Gruß, Maya

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#5

Elbmarsch

in Düsteres und Trübsinniges 02.12.2006 09:13
von Albert Lau (gelöscht)
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Doch, wirkliche Kinder, leider. Seit 1990 sind 16 an Leukämie erkrankt, vier gestorben. Aber an dem Kraftwerk in der Elbmarsch bei Geesthacht liegt es natürlich nicht.

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#6

Elbmarsch

in Düsteres und Trübsinniges 02.12.2006 09:23
von Maya (gelöscht)
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Ooch . Na, dann war ich mit der Interpretation ja doch nicht so weit weg, nur dass ich halt lediglich von einem Kind ausgegangen bin und das Kraftwerk mit der Todesursache Leukämie nicht in Zusammenhang gebracht habe. Aber warum du letztlich behauptest, dass das Gedicht versagt hat, will mir nicht einleuchten. Du hast gerade mal einen Kommentar dazu erhalten, an dem du das nicht festmachen solltest .
Es gibt sicher Leser, die den Zusammenhang erkannt hätten.

Grüße, Maya

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#7

Elbmarsch

in Düsteres und Trübsinniges 04.12.2006 11:43
von Knud_Knudsen • Mitglied | 994 Beiträge | 994 Punkte
hi AL,
ich habe auch sofort an das Elbatomkraftwerk gedacht in dessen Umfeld es zu vermehrter Leukemie gekommen ist. Trotz aller Dementis, von Seiten der Betreiber, und unzähliger erfolgloser Recherchen bleibt Skepsis
angebracht. Auch soll es Störfälle gegeben haben. Alles sehr mysteriös.
Gruss
Knud

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#8

Elbmarsch

in Düsteres und Trübsinniges 12.12.2006 15:06
von Fabian Probst (gelöscht)
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ich habe das leider übersehen, denn sonst hätte ich etwas dazu geschrieben.

Ich mag das Gedicht und finde es gelungen, gerade durch die leisen Töne, die die Umstände der unsichtbaren Gefahr und auch die Ignoranz der Verantwortlichen sehr gut transportieren.

Die dritte Strophe fällt mir unangenehm ins Auge.

Mich stört hier das doppelte "Stadt" und "Kind/er", auch wenn du mit dem ersten "Stadt" vorher wohl das Kernkraftwerk meinst. Bei den Kindern habe ich mich schlicht am Ende gewundert, warum jenes Kind nicht inm der Schule ist? Etwas kleinkariert, aber mein träges Lesergemüt hätte hier eine Differenzierung in der Wortwahl besser empfunden.

Auch das "Ehegatten" wirkt für mich störend, weiß nicht, warum. Vielleicht mag ich das Wort einfach nicht.
Diese Strophe soll für das "normale" Leben stehen, dass scheinbar völlig an der Gefahr vorbei weiter seinen Gang geht. Insofern ist sie wichtig für das Gedicht, aber daran würde ich persönlich noch mal arbeiten, zumindest die Doppelungen vermeiden.

Ansonsten wird das Gedicht von einer fast einlullenden Melancholie getragen, die der Thematik gerecht wird.
Ich komme aus Lüneburg und war desöfteren in der Gemeinde unterwegs. Einmal wollten wir mit ein paar Freunden zum Kernkraftwerk und unseren Unmut loswerden. Dann waren da auch ein paar radikale Linke. Einer hatte eine Spraydose mit und hat dann auf der Elbbrücke folgenden Satz angesprayt. "Auch im neuen deutschen Reich, haun wir die Nazis windelweich".
Nun ja, man war entschlossen, aber nicht unbedingt gut informiert, worum es ging, geschweige denn nüchtern.
Das war übrigens ungefähr 1991, schätze ich.

Eigentlich kommt das Gedicht zehn Jahre zu spät.
Trotzdem gefällt es mir gut.

Gruß, Fabian

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