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Liebe Tümpler, liebe Gastleser!
Lange hat es gedauert, doch vergessen wir nicht, dass einige User von uns noch den Ansprüchen des „realen“ Lebens gerecht werden müssen und nicht jeder die Zeit hat, tagsüber stundenlang vor dem PC zu hängen, um unzählige Kurzgeschichten auf ihre Plätze zu verweisen. Daher ein aufrichtiger Dank an unsere Jury für die Stunden und Tage, ja, wenn wir ehrlich sind, sogar Wochen und Monate, die sie für das Lesen und Bewerten der KG’s opferte.
Nun aber genug der Nichtigkeiten, gehen wir zum relevanten Teil der Veranstaltung über. Von insgesamt 6 eingereichten Kurzgeschichten kann es nur einen Sieger geben.
The winner of the first Short Story Competition 2007 is:Trommelwirbel
Es folgen die verlinkten Kurzgeschichten, die nach Platzierung sortiert sind sowie die Kritiken der 3 Juroren:
1. Aktionspotenziale (Brotnic2um) [zum Text und den Kritiken]
2. Der schwarze Fuß meines Tisches (GerateWohl) [zum Text und den Kritiken]
3. Siedenbachs Schatten (Erebus) [zum Text und den Kritiken]
4. Strandhüttennacht (Alcedo) [zum Text und den Kritiken]
5. Alle Menschen wollen glücklich sein (Don Carvalho) [zum Text und den Kritiken]
6. Top-Ten Zwischenmeldung (Joame Plebis) [zum Text und den Kritiken]
Lange hat es gedauert, doch vergessen wir nicht, dass einige User von uns noch den Ansprüchen des „realen“ Lebens gerecht werden müssen und nicht jeder die Zeit hat, tagsüber stundenlang vor dem PC zu hängen, um unzählige Kurzgeschichten auf ihre Plätze zu verweisen. Daher ein aufrichtiger Dank an unsere Jury für die Stunden und Tage, ja, wenn wir ehrlich sind, sogar Wochen und Monate, die sie für das Lesen und Bewerten der KG’s opferte.
Nun aber genug der Nichtigkeiten, gehen wir zum relevanten Teil der Veranstaltung über. Von insgesamt 6 eingereichten Kurzgeschichten kann es nur einen Sieger geben.
The winner of the first Short Story Competition 2007 is:Trommelwirbel
~Brotnic2um mit der KG „Aktionspotenziale"~
Es folgen die verlinkten Kurzgeschichten, die nach Platzierung sortiert sind sowie die Kritiken der 3 Juroren:
1. Aktionspotenziale (Brotnic2um) [zum Text und den Kritiken]
2. Der schwarze Fuß meines Tisches (GerateWohl) [zum Text und den Kritiken]
3. Siedenbachs Schatten (Erebus) [zum Text und den Kritiken]
4. Strandhüttennacht (Alcedo) [zum Text und den Kritiken]
5. Alle Menschen wollen glücklich sein (Don Carvalho) [zum Text und den Kritiken]
6. Top-Ten Zwischenmeldung (Joame Plebis) [zum Text und den Kritiken]
Platz 1: "Aktionspotenziale" (Brotnic2um)
Prolog
Meine einzige Erinnerung an die Zeit, als ich ein Kleinkind von vielleicht vier Jahren war, ist die, dass Mum mit einem vollbeladenen Tablett in der Hand vorüberging, es schaffte, mir, der ich traumverloren am abgeräumten Esstisch saß und malte, den Wachsmaler von der linken in die rechte Hand zu stecken. Vielleicht hat sie dafür das Tablett auch abgestellt, vielleicht auch Dad angegiftet, er solle mehr auf mich achten, denn vielleicht lag Dad schon satt und rund in seinem Sessel und spielte mit der Spieluhr. Und vielleicht betrachtete er versunken, die sich anmutig und verführerisch auf dem Teller drehende und Geige spielende Fee? Vielleicht.
I.
Sie sagte es mir, als wir in die neu eröffnete Shoppingmall fuhren, um die zur Eröffnung üblichen Sonderangebote auszunutzen. Ich hatte gerade die Schule beendet und war dabei, mich zu entscheiden, wie es weitergehen sollte.
„Mum, wir müssen links abbiegen.“, dirigierte ich sie durch den dichten Verkehr.
Mum nickte und fuhr rechts rum und ich bemerkte, dass ich auch rechts gemeint hatte. Aber wie konnte sie sich so sicher sein, denn wir fuhren in keinem uns bekannten Viertel?
„Das ist alles meine Schuld.“, sagte sie plötzlich, ohne mich anzublicken.
„Was ist deine Schuld?“
„Deine Schwierigkeiten mit links und rechts und so.“
„Was meinst Du?“
„Ich habe Dich umgestellt. Von links auf rechts. Ich hatte gedacht, das würde es Dir einfacher machen.“
„Wovon redest Du?!“
Sie musste vor einer Kreuzung anhalten und blickte zu mir. Sie war nicht den Tränen nahe, aber sie sah mich so an, als wäre ich nicht ihr neunzehnjähriger Sohn, sondern ein völlig Fremder gewesen.
„Von meinen Fehlern rede ich, hörst Du? Es tut mir leid. Ich dachte, dass es in einer Welt, in der vorrangig Rechtshänder leben, einfacher für Dich wäre, wenn Du nicht ständig umdenken müsstest, verstehst Du? Es leichter für dich wäre, wenn Du auch im Uhrzeigersinn ticken würdest.“
„Du meinst richtig rum?“, fragte ich stutzig.
„Ja.“
„Dann bin ich eigentlich andersrum?“, grinste ich sie nach einer kurzen Pause an und war froh, einen Ausweg gefunden zu haben, dieses mir unangenehme und mir von meiner Mum unvermittelt aufgezwungene Thema beenden und das Gespräch in andere Gefilde lenken zu können.
„Blödmann.“, lachte sie mich an. „Du und andersrum – pfff.“
Und bevor Mum zu irgendwelchen Peinlichkeiten aus meiner Vergangenheit ausholen konnte, brach hinter ihr ein Hupkonzert aus. Ich nahm es zum willkommenen Anlass, mich umzudrehen und den nachfolgenden Rumhupern wilde Gesten zu machen und war erleichtert, als wir endlich weiterfuhren.
Wir sprachen nie wieder darüber. Aber in der Nacht jenes Tages, an dem sie mir ihren Fehler gebeichtet hatte, starrte ich meine linke Hand an und fragte mich, was in ihr stecken mochte.
II.
Mir wurde in jener Nacht bewusst, dass linkisch und link Schimpfworte sind und dagegen die rechtschaffenen Begrifflichkeiten stehen. Ich erinnerte mich, weil Mum und ich, als wir noch im Dorf bei Großmutter lebten, jeden Sonntag in die Kirche gingen und viel aus der Bibel und anderen kirchlichen Büchern lasen und singen mussten, dass die Männer rechts und die Frauen links in der Kirche saßen. Wenn ich mir die Bildnisse von der Kreuzigung Jesu in Erinnerung rief, gewahrte ich, dass Jesus immer nach rechts schaute und dort die Besseren standen. Dort war Maria und nicht Johannes, dort war keiner verhüllt oder am Straucheln. Dort war das Licht und nicht der Schatten. Über der linken Schulter des Erlösers aber prangte der Mond und zu seiner Linken, auf der Seite, auf die er nicht sah, führten Höllenknechte Sünder in einen tiefen Schlund.
Ich erinnerte mich, dass Großmutter Ingeborg immer tadelnd ihre rechte Augenbraue hochzog, wenn ich sie mit der linken Hand begrüßen wollte. Wir waren bald nach Dads Unfalltod – ich war gerade fünf Jahre alt geworden, als es passiert war – bei Großmutter eingezogen und blieben lange bei ihr wohnen.
Generell war Großmutter nicht amüsiert, wenn ich mit meiner Linken agierte. Wenn Ingeborg ihren Mund zu einem Strich zusammenzog, dabei die Glieder ihrer schweren Perlenkette durch ihre faltigen Finger gleiten ließ und insgesamt zu einer Statue der Strenge gefror, bekam ich eine undefinierte, fürchterliche Angst vor dieser Frau und fing wieder an zu stottern.
Meine Mum schämte sich lange wegen meiner Stotterei. Schnell hieß es im Dorf, ich sei zurückgeblieben. Was sich eben auch an meiner Sauklaue und Rechtschreibschwäche manifestierte. Ich wusste es besser und arbeitete an mir. Ich wollte nicht, dass Mum sich für mich schämte. Ich behielt zwar meine krakelige Schrift, aber ich bekam es hin, nicht mehr zu stottern.
Aber wenn ich vor Ingeborg strammstehen musste, weil sie mich bei irgendetwas ertappt hatte und sie mich lange anschwieg und ich nur das Aneinanderklicken ihrer Perlen und das Ticken der großen Wanduhr hörte, bis sie mich endlich fragte, was ich mir denn dabei nun wieder gedacht hätte, da konnte ich nicht anders, als stotternd zu antworten. Aber es war kein Stottern aus Verlegenheit. Es war der Druck, richtig funktionieren zu müssen, den mich die alte Frau immer und immer wieder spüren ließ. Sie aber schien das zu amüsieren.
Allerdings war keiner von uns beiden mehr amüsiert, als – da war ich zwölf - sie plötzlich in mein Zimmer gekommen war, während ich dabei war an mir herumzuspielen. Ich war wie erstarrt und wagte keinen Muskel zu bewegen. Hätte sie länger in der Tür gestanden, wäre ich wahrscheinlich erstickt.
„DAS solltest Du wenigstens mit links machen!“, fauchte sie und ließ die Tür wieder krachend ins Schloss fallen.
Die nächsten Tage und Wochen war ich wie paralysiert und schämte mich in Grund und Boden. Mum realisierte wohl, wie schlecht es mir ging und dass ich Großmutter, wo ich nur konnte, auswich und so war es ein glücklicher Tag, als wir ein gutes halbes Jahr später nach diesem Vorfall Ingeborg wieder verließen und unsere Zelte in der Stadt aufschlugen.
Mum hatte über einen Bekannten, Onkel Kuki, einen Job in einer Zeitungsredaktion als Schreibhilfe bekommen. Wir hatten Großmutter seither nie wieder gemeinsam besucht. Ich glaube, sie hat ihre Mutter danach sowieso nur noch selten alleine gesehen oder gesprochen.
Ich war und blieb auch in der Stadt der verbissene, kleine Junge. Ein Eigenbrötler mit wenigen Freunden, eher Bekannten als Freunden. Hin und wieder unternahm man etwas. Für Kino konnte ich mich immerhin begeistern. Alles andere, wo ich hätte mehr reden müssen – heute sagt man small talk dazu - war mir aber ein Graus. Insgesamt tat mir die Stadt aber gut. Erst war ich verstört von der Vielzahl der Menschen, aber ich begriff schnell, dass die allermeisten, denen ich begegnete, mich gar nicht wahrnahmen und ebenso wenig Interesse wie ich daran hatten, Kontakt zueinander aufzubauen. Nachdem ich das begriffen hatte, ging es mir besser.
Ich schaffte den Sprung aufs Gymnasium und ich frönte einem Hobby: Aktionspotentiale. Ich liebte es, die Steinchen in von mir erdachten Welten aufzubauen und durch meine selbst konstruierten Apparaturen zu führen. Es bedarf einer ruhigen Hand und Präzision. Zwar ermüdete ich schnell beim Bauen, dass ich mit rechts erledigte, aber der optische und akustische Genuss, wenn die Steinchen in einem gleichbleibenden Stakkato fielen und die Befriedigung, wenn alle Steine gefallen waren, die waren mir jede Mühe Wert.
Mum hielt es für extrem nervend, in einer kleinen Wohnung solche Domino-Landschaften aufzubauen und für total bescheuert, sein Wochenende damit zu versauen. Aber sie steuerte die teuren Steine bei und baute – unter genauester Anweisung von mir – auch selbst mit.
Sie hatte es irgendwann aufgegeben, mich aus meinem Schneckenhaus rausziehen zu wollen. In meiner Pubertät hatten wir uns ein paar Mal über mein angeblich kaum zu ertragendes Desinteresse an allem Menschlichen gestritten. Aber bald schon kapitulierte sie: „Du bist so ein Sturkopf!“ und „ein elender, kleiner Rechthaber“. Damit beendete sie frustriert ihre Erziehungsversuche.
Sie hatte viel auszustehen, als ich älter wurde. Daher versuchte ich stets, meine Mum nicht noch durch schulische Scherereien zu belasten. Ich wollte gut funktionieren. Es langte sogar zu einer guten Matura und unter Mitschülern und Lehrern zum zweifelhaften Ruf eines nervtötenden Diskutanten, der, wenn auch selten, aber wenn, dann beharrlich, immer und immer wieder auf einem einzigen Punkt herumreiten konnte. „Der Ja-Aber“, so nannten sie mich gerne. Aber es ging mir halt gegen den Strich, wenn eine Ausgangsthese ungenau formuliert und eine Diskussion schon dadurch falsch begonnen worden war. Entsetzlich.
Aber mit Rechthaberei war es nun vorbei. Auf einmal war ich kein Rechthaber mehr, sondern ein Linkshänder geworden und mir fielen diese Kleinigkeiten an mir auf: Außer bei unserer Zeit bei Ingeborg, tauschte ich beim Essen sofort Messer und Gabel an ihrem Platz. Oder ich nahm Scheren grundsätzlich in die linke Hand. Zwar spielte ich kaum Fußball, aber wenn, dann spielte ich auf der linken Seite und warf mir jemand etwas zu, fing ich es mit meiner starken Hand auf: der linken. Die Linke war auch stets meine Schlaghand.
All diese Kuriositäten gingen mir in jener Nacht durch den Kopf. Vielleicht nicht so konkret, aber vieles, was ich oder andere als Spleen oder Kuriosität abgetan hatten, schüttelte mich nun durch. Ich sah meine linke Hand an und fragte mich, wie viel von mir in ihr stecken mochte und was noch vergraben war. Schließlich machte ich das Licht aus und fand keine Ruhe mehr.
III.
Am nächsten Tag fasste ich einen heimlichen Entschluss: Von nun an wollte ich alles mit links machen. Nach nur wenigen Wochen stellte ich fest, welche Fortschritte ich gemacht hatte. Meine Schrift entwickelte und verbesserte sich. Mit jeder Zeile, die ich mit links schrieb, stieg mein Selbstbewusstsein. Jede Zeile, die ich schrieb, veränderte, ja befreite mich. Es ging wie von selbst, dass die Menschen mir auf einmal näher waren als je zuvor. Ich konnte mit ihnen über alles Mögliche reden und in einer Diskussion, die ich früher nur über Dinge, aber nie über Menschen geführt habe, verzichtete ich freiwillig auf das letzte Wort. Der Witz war, dass Anne überhaupt nicht mitbekam, dass ich dabei war meine Händigkeit wieder zurückzustellen. Natürlich lag es auch daran, dass ich wenige Monate nach meinem Entschluss, einen Studienplatz erhalten hatte und in eine WG in einer anderen Stadt gezogen war. So besuchte ich sie nur noch hin und wieder. Sie war aber glücklich, dass ich endlich aus mir herausgefunden hatte. Warum das so war, wollte sie nicht erkennen. Allerdings schockte ich sie noch einmal, als ich kurz darauf auch aus der Kirche austrat. Sie hielt es einen Monat lang durch, mich zu verstoßen, danach nahm sie den Hörer ab und redete mit mir und ich durfte sie auch wieder besuchen.
Ich studierte zu dieser Zeit Architektur. Das Fach erschien mir damals goldrichtig zu sein. Es erforderte Pedanterie, Perfektionismus im Detail und war mathematisch anspruchvoll. Ich liebte den Bauhausstil und seinen Funktionalismus. Alles Überflüssige war dort gestrichen. Je mehr ich aber meinem neuen Steckenpferd – dem linken Leben – frönte, desto häufiger langweilte mich auch das Alte. Neugierig betrat ich neue Welten und war offener, etwas auszuprobieren.
So nahm mich eines Tages ein Kommilitone zu einem Zeichenkursus der Volkshochschule mit, der neben Zeichenübungen auch Selbsterkenntnis versprach. Natürlich hatte ich in meiner Vergangenheit schon gemalt und gezeichnet. Recht passabel sogar, wobei ich mich ausschließlich auf das Abzeichnen konzentriert und mich für perspektivische Raffinessen interessiert hatte.
Zwar hatte ich eigentlich komplett auf links umgestellt, aber bei den Zeichnungen in den Seminaren und Übungen für das Architekturstudium vertraute ich – weil es um Exaktheit ging - weiterhin der rechten. Der Volkshochschulkurs schien mir eine gute Gelegenheit zu sein, meine linke Hand weiter zu trainieren, um sie bald auch an der Uni einsetzen zu können.
„Schließt bitte die Augen. Versucht alles um Euch herum zu vergessen. Macht Euren Kopf leer. Lasst Euch fallen. Leere ist der Beginn allen Schaffens. Wir wollen einen leeren Kopf, ein leeres Blatt.“ Immer monotoner werdend sprach die Lehrerin des Kurses weiter und ich ließ mich auf dieses Spiel ein.
„Provoziert keinen Eindruck, provoziert keine Erinnerung. Sucht nichts. Lasst das Bild Euch finden.“
In diesem Moment hörte ich den Klang von Dads Spieluhr und ich sah die fiedelnde Fee und wie sie sich im Kreis drehte. Ja, ich sah sogar ihr Gesicht. Es war meinem eigenen ganz nah, so als würde sie mich betrachten und ich stünde auf dem sich drehenden Karussell.
Darauf hatte es die Kunsterzieherin und Meisterin irgendeiner fernöstlichen spirituellen Yoga-Tantra-Vertiefungslehre abgesehen - ein kräftiger Eindruck, ein Gedankenflash aus dem Nichts. Diesen Eindruck, sofern erfahren, sollten wir erst mit dem Herzen festhalten und ihn dann aufs Papier bannen.
Meine linke Hand zeichnete das Gesicht der Fee. Meine linke Hand wusste, dass sie nicht links oben, in der Ecke anfangen musste, um zu zeichnen, so wie es die meisten Rechtshänder tun; stattdessen eroberte sie das Gesicht der Fee von der Mitte aus und malte wie in Trance.
„Wow. Wer ist das denn?“
Ich bekam erst gar nicht mit, dass Eric mit mir über mein werdendes Bild sprach.
„Na sag schon. Ist das deine Freundin? Nee, dazu ist das Mädel auch zu jung. Warum hast Du eigentlich keine Freundin?“
„Halt die Klappe, stell Dir nicht irgendwelche Fragen und mach mal einen Punkt! Ich weiß nicht, wer das ist. Das Gesicht war auf einmal da. Es war das Gesicht einer Fee.“
Eric sagte nichts mehr und sah mich mit großen Augen an. Langsam wurde mir bewusst, was er da wahrscheinlich missverstand und ich entschloss mich, ihm die Geschichte von der Spieluhr zu erzählen. Aber irgendwie wollte er nicht verstehen.
„Du erzählst mir, Dein Vater hat gerne mit einer Spieluhr gespielt? Und das Gesicht hier, ist das Gesicht einer Figur von der Spieluhr? Was für Drogen nimmst Du?“
„Du hast doch echt keine Ahnung. Das ist es, woran ich mich erinnere und nun ist Feierabend. Schnauze voll!“
Madame Yoga rauschte herbei und bat uns, doch nicht so aggressiv zu sein; wir würden die anderen stören.
„Kein Problem, ich wollte sowieso gerade gehen.“, murmelte ich. Kurz entschlossen raffte ich mein Zeug zusammen, rollte das Bild ein und verließ die Szenerie.
Schlechtgelaunt verbarrikadierte ich mich in meinem Zimmer in der WG. Nein, ich wollte nichts essen und ja, ich werde meinen Putzdienst morgen antreten. Ich war von den anderen so genervt wie damals, als mir jede Begegnung mit einem Menschen wie eine Prüfung erschienen war, wo ich mich immer zusammenreißen musste, um zu funktionieren. Ich atmete tief durch. Warum, zum Teufel, hatte ich mich so über Eric geärgert? Nebenbei holte ich das Bild aus der Tasche, rollte es auf, sah es an und wusste, dass Eric Recht und ich mich kindisch benommen hatte. Das Gesicht einer Puppe, einer Figur, sieht anders aus. Aber wer war sie?
IV.
„Du siehst schlecht aus. Hast viel zu tun, gell?“
„Ja, es ist anstrengend.“, vor allem, wenn man sich - wie ich - nicht ausreichend mit dem beschäftigt hatte, womit ich mich eigentlich hätte beschäftigen sollen. Aber das sagte ich nicht. Noch nicht. Nach dem Projekt Selbsterfahrung durch Malen und Zeichnen hatte ich angefangen, mich mehr mit der Kunst und der Malerei zu beschäftigen als mit der Architektur und ihren zähen Grundlagen. Aus der Spielerei wurde Hobby, dann Leidenschaft, schließlich sogar – durch lukrative Nebenjobs - Broterwerb.
Fakt war: Ich hatte keine Lust mehr auf Papiermodelle und hektische Bastelabende in letzter Minute, um Abgabetermine einzuhalten. Der Architekt und Baumeister in mir war gestorben, aber meine Bewerbungsmappe für einen Platz in einer Kunstakademie war stattdessen kontinuierlich gewachsen.
An einem sonnigen Sonntagnachmittag wollte ich Mum bei Kaffee und Kuchen in meine neuen Pläne einweihen. Dazu hatte ich die Mappe mitgenommen, wartete aber auf eine passende Gelegenheit.
Mum schenkte mir noch mal Kaffee nach und bemerkte ganz beiläufig:
„Nun zeig schon her, was Du da in Deiner Mappe hast. Du hast doch was auf dem Herzen?“
„Danke, Mum. Ich habe angefangen, zu malen und zu zeichnen. Das wollte ich Dir zeigen.“
Mum war nicht erfreut. Sie war skeptisch. Ich machte auf dem Tisch etwas Platz und legte ihr meine Mappe hin.
„Schau es Dir bitte an, bevor Du was sagst.“
„Na, dann wollen wir doch mal sehen.“, sagte sie, löste die Haltegummis und wendete mit leicht zitternder Hand den Deckel. Mir fiel mit einem Mal auf, dass Mutter in den letzten drei Jahren mindestens zehn Jahre älter geworden war. Sie war eine alte Frau geworden. Ich war wie vor den Kopf gestoßen und nahm erst gar nicht wahr, wie sie auf die von mir geplante Überraschung reagierte. Denn das erste Blatt in der Mappe war ein Portrait von ihr. Zu jung, wie ich jetzt dachte.
Sie hatte ihre rechte Hand vor dem Mund und sie weinte leicht vor Rührung, so sehr gefiel ihr, was sie sah.
„Ist das schön. Danke. Und so gut gezeichnet.“, und ähnliches mehr flüsterte sie. Ihre Skepsis – was ihr Sohn da wohl mitgebracht hatte – war Rührung und Begeisterung gewichen. Als sie die Signatur bemerkte: „Meiner Mum.“, war es ganz um sie geschehen. Sie brauchte einige Minuten, um sich wieder zu sammeln und zu fangen.
Sie blätterte. Wir plauderten. Diskutierten. Ob ich mir denn dieses Mal sicher sei? Ich nickte und gab mich auch selbstkritisch.
Die Landschaftsmalereien beeindruckten sie nicht so sehr wie die Zeichnungen, die ich von meinen Mitbewohnern angefertigt hatte. Sie wollte wissen, wie alle heißen und interessierte sich vor allem für die Portraits meiner Mitbewohnerinnen. Wahrscheinlich hoffte Sie so, einen Blick auf ihre zukünftige Schwiegertochter werfen zu können.
„Ich hätte nie gedacht, dass Du Gesichter so lesen kannst. Ich hatte schon vermutet, dass Du Dich nur mit Steinen und Dingen beschäftigen kannst. Und jetzt das.“
„Du bist also einverstanden, wenn ich nochmal von vorn beginne, Anne?“
Mit ihren großen, runden Augen und einem strahlenden Lächeln nickte sie mir zu, legte das vorletzte Blatt zur Seite und erstarrte. Jeglicher Frohsinn, jegliche Zuversicht, alle Liebe war mit einem Schlag aus ihrem Gesicht gewichen, als sie das letzte Bild sah.
„Mum?“
Sie reagierte nicht. Ich ließ ihr etwas Zeit.
„Mutter?“, wiederholte ich zärtlich.
Sie riss, als ob ich einen Befehl gegeben hätte, den Kopf zu mir hoch. Mit einem mir fremden Gesicht starrte sie mich an.
„Du wagst es!“, schrie sie mich an. „Du wagst es! Du!?“
„Mum! Was ist los?“, rief ich und hielt ihre Arme fest in meinen Händen. Sie war drauf und dran gewesen, mir ins Gesicht zu schlagen oder es mir zu zerkratzen.
Statt mir zu antworten, spuckte sie mich an, riss sich los, floh in ihr Schlafzimmer und verbarrikadierte sich.
Sie heulte wie ein Hund und brüllte immer wieder, ich solle abhauen, ich solle mich nie wieder blicken lassen. Ich sei ein undankbares Balg und hätte nichts verstanden.
Minuten? Stunden? Keine Ahnung, wie lange ich noch geblieben war, wie lange ich versucht hatte, Anne irgendein vernünftiges Wort zu entlocken oder zu hoffen, dass sie wieder die Tür öffnete und mich nach Hause ließ. Denn sie war die einzige Heimat, die ich hatte. Aber sie war wie von Sinnen, am Ende sang sie sogar Kirchenlieder. Und wenn ich es wagte, vor ihrer verschlossenen Tür kniend, einzustimmen, dann schrie sie wie am Spieß und keifte, ich solle das Maul halten, ich hätte für alle Zeit mein Recht verwirkt, der Gnade des Herrn teilhaftig zu werden. Ich hätte mich doch schon längst anders entschieden.
„Geh endlich weg! Geh weg.“, das war noch das Vernünftigste, was sie mir durch die verschlossene Tür zu sagen hatte. Irgendwann ging ich dann auch.
V.
Ein paar Tage später sah ich mich erstmals wieder bewusst im Spiegel an. Ich sah fürchterlich aus. Bis auf Eric hatten alle Bewohner der WG einen großen, aber rein zufälligen Bogen um mich herum gemacht. Das heißt, sie waren froh, wenn sie es vermeiden konnten, mich zu sehen oder mit mir reden zu müssen.
Eric wagte es trotzdem, weiter nach meinem Befinden zu fragen, obschon ich ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er für sein Seelenheil ein anderes Robbenbaby retten müsse. Aber statt beleidigt zu sein, hakte er weiter nach.
Bald gab ich nach und erzählte ihm die Geschichte, die sich mit meiner Mum zugetragen hatte, und natürlich wollte er das letzte Bild in der Mappe sehen.
„Das kenne ich doch, oder nicht? Das ist das von damals aus dem Kurs, oder nicht?“, fragte er mich leicht triumphierend.
„Ja. Genau das ist es.“, antwortete ich etwas kleinlaut.
„Ich finde, Du solltest rauskriegen, wer das ist. Vielleicht fragst Du mal Deine Oma oder so? Die lebt doch noch, oder? Hast Du mit mir eigentlich jemals über Deine Familie gesprochen?“
„Eric, danke! Aber Du hast Recht. Ich werde etwas unternehmen.“
Ingeborg aufzusuchen, kam mir natürlich nicht in den Sinn, aber als Eric darüber nachgedacht hatte, wer mir helfen könnte, das Geheimnis der Fee zu lüften, war mir spontan wieder Kuki eingefallen.
Die Recherche nach Kuki war leichter als ich gedacht hatte. Seinen richtigen Namen kannte ich zwar nicht, aber sein Spitzname war selbst den Redaktionen ein Begriff, für die er nicht gearbeitet hatte. Kuki war schon in Rente, aber noch umtriebig genug, dass er häufig in seiner alten Redaktion vorbeischaute, in der Hoffnung, doch noch die ein oder andere Geschichte platzieren zu können. So erhielt Kuki relativ zügig die Nachricht, dass der Sohn einer alten Freundin ihn sprechen wolle.
Mein Telefon klingelte. Ich nahm ab.
„Was gibt’s?“, fragte mich eine ziemlich verrauchte, alte Stimme. Kein Zweifel: Kuki.
„Das ist kompliziert.“
„Versuchs in drei Sätzen.“
„Ich habe meiner Mum ein Bild gezeigt, sie ist vollkommen ausgeflippt und hat mich verstoßen.“
„Was für ein Bild?“
„Eine Zeichnung. Genau genommen ist es eine Portraitzeichnung.“
„Kannst Du mir das Bild faxen?“
Ich konnte. Aber ich musste länger als eine Woche auf eine Antwort warten. Dann endlich rief er an.
„Wir müssen uns treffen.“, begann er ohne Umschweife.
„Weißt Du, wer sie ist?“, fragte ich.
„Wir treffen uns, wir reden und alles andere ergibt sich.“
„Und wo treffen wir uns ?“
Eine halbe Stunde früher als ausgemacht war ich am Treffpunkt. Noch etwas früher war ich in meinem alten Dorf angekommen und hatte mich schon ausreichend gewundert, wie klein alles geworden war. Wie fremd mir alles erschien, die Schule, die Häuser und erst recht der eh nur selten von mir besuchte Spielplatz. Auch die Straßen schienen mir schmal und klein zu sein.
Angenehm überrascht war ich, als ich Ingeborgs Haus entdeckte. Es war nicht nur klein, es war mickrig. Ich fragte mich, ob heute Ingeborg anfangen würde, zu stottern, wenn ich ihr plötzlich begegnete? Sie müsste noch leben, denn auf ihrer Beerdigung war ich nicht gewesen. Aber der Anflug von später Genugtuung verflog schnell wieder und statt dessen fragte ich mich, was aus der kleinen, alten Frau wohl geworden ist?
Von Ingeborgs Bleibe sind wir jeden Sonntag zur Kirche gegangen. An der Dorfkneipe vorbei, die auch heute wieder zum Kegelabend rief, und ein Stück den kleinen Hügel hinauf, erreichten wir die irdischen Himmelspforten. Als Magnet, Mittelpunkt und Monstrosität ragte das romanische Prachtstück aus der dörflichen Optik hervor. Nein, lächerlich erschienen mir das Schiff und der Turm nicht, aber ich empfand weder Ehrfurcht noch flößten sie mir einen Schrecken ein. Kurz schaute ich hinein, ob Jesus noch am Kreuz hängt und fühlte mich bestätigt, dass hier alles noch am selben Platz stand und hing.
Kurz nach meiner Stippvisite am Altar, befand ich mich am Treffpunkt. Zu früh und ohne Idee, warum Kuki mich ans Grab meines Vaters bestellt hatte, saß ich auf einer Bank vis-a-vis dem vergrabenem Vater. Ich hatte ihn nicht vermisst. Er war nur ein Bild, eine Figur, eine meist stumme Erinnerung. Und während ich mich auf der Bank sitzend fragte, welche Empfindung ich angesichts seines Grabes haben sollte, schlossen sich plötzlich alte, aber kräftige Hände von hinten um meine Schultern.
„Wurzeln. Jedes Leben, jedes Schicksal hat Wurzeln. Da ist Deine Wurzel.“ Kukis Stimme war noch rauer als am Telefon. Ich wollte mich umdrehen, doch behände und mit Druck drehte er meinen Kopf wieder Richtung Grab.
„Da liegt Paul. Und Paul ist Dein Vater. Aber Anne ist nicht der Name Deiner Mutter.“
Ich weiß nicht, wie er meine Hände, meinen Kopf weiterhin kontrollierte, denn ich wollte einfach aufstehen, Kuki auslachen und anspucken, aber seine Hände waren überall und hielten mich und meinen Blick starr auf Dads Grab gerichtet.
„Anne hat alles für Dich geopfert. Sie stand immer an Deiner Seite; sie hat sich für Dich verleugnet. Aber wenn Du nach Deinen unmittelbaren Wurzeln fragst, dann gehört Anne nicht dazu.“
„Sag mir nicht, wer meine Mutter ist, sag mir, wer das auf dem Bild ist, oder lass es.“, erwiderte ich zornig.
„Deine Mutter und Deine Schwester.“, antwortete er knapp und ließ mich los. „Ich konnte es Dir nur hier... ich hätte es nicht übers Herz gebracht, wenn Du mich angesehen hättest.“
Eigentlich wollte ich aufspringen, wegrennen, flüchten oder wenigstens dem alten Sack eins in die Fresse hauen. Aber so, als hätte ich ein Bleigewicht am Hintern, eine unsichtbare Fixierung am Körper, blieb ich bewegungslos sitzen. Meine Schwester? Meine Mutter? Ich glaubte Kuki. Aber ich verstand es nicht und trotzdem wurde mir speiübel. Ich konnte meinen Blick nicht mehr von Pauls Grabstein lösen. Dieser Endstein war der letzte Anker meiner Identität Ich hätte mir einen lebendigeren und angenehmeren gewünscht.
„Was ist mit ihr passiert?“, krächzte ich nach einiger Zeit und war froh, dass Kuki immer noch hinter mir stand und ich ihn nicht ansehen musste. “Nein, warte, warte. Vorher will ich wissen, wie sie heißt und wie alt sie ist?“
„Auf jeden Fall war sie nicht alt genug. Wiebke war dreizehn, als sie Dich geboren hatte. Geschwängert hat er sie, als sie zwölf war. Missbraucht, seit sie gehen konnte.“ Der alte Mann hatte jegliche Selbstsicherheit verloren.
„Woher weißt Du das alles?“
„Als Paul seinen Unfall gehabt hatte, begann ich zu recherchieren. In so einem Dorf mit seinen bummelig siebentausend Seelen bleibt nichts verborgen. Aber es wird auch nicht alles öffentlich. Alles hintenrum und durch die kalte Küche oder mal eine besoffene Bemerkung am Dorftresen. Ich habe zugehört und mir den Unfall dann noch mal ganz genau angesehen. Es war kein Unfall. Du solltest meine Story werden.“
“Kein Unfall? Hat Anne ihn umgebracht?“
„Ja.“
Mein Kopf war leer. Ein unbeschriebenes Blatt und doch vollgeschmiert mit Sudeleien, schließlich zerknüllt und in den Papierkorb befördert. Ich war noch nicht mal eine Story. Ich war gar nichts.
Aber Kuki erzählte mir mehr. Er erzählte mir seine Story, ob ich sie hören wollte oder nicht. Im Angesicht des Grabes empfand ich nur noch, dass ich keine Geschichte mehr hatte. Ich horchte nur kurz auf, als Kuki erwähnte, dass Paul übrigens ein Linkshänder gewesen ist. Und Anne nach Pauls Tod ganz rigoros meine Händigkeit umstellte, um nicht auch dadurch an Paul erinnert zu werden.
Wiebke sei mit sechzehn abgehauen, einen Tag nach ihrem Geburtstag. Er wisse nicht mehr, wie die Eltern Wiebkes Wegbleiben im Dorf erklärt hatten, aber er wisse aus seinen damaligen Recherchen noch genau, dass ihm immer alle unter vier Augen von der armen Anne und dem schlimmen Paul erzählt hatten:
„Schlimm. Ganz schlimm. Das hat die Anne nicht verdient. Nee, das hat sie nicht verdient. Der Paul, der taugte doch nichts. Aber Du steckst da ja nicht drin, nicht? Und böses Blut will hier keiner und der Paul hat ja nun bekommen, was er verdient hat, nicht?“, zitierte Kuki mit angewidertem Ton nicht nur jene Menschen, die ich aus Schule und Kirche gekannt hatte. Ja, Kuki war besser im Bilde.
„Warum hast Du diese ganze Story nicht als Reporter veröffentlicht? Wolltest Du auch kein böses Blut?“; den Sarkasmus meiner Frage überhörte er.
„In gewisser Weise, ja. Vielleicht hatte ich mich in Deine Mutter verliebt? Auf jeden Fall tatet ihr mir leid.“ Seine Stimme wurde wieder brüchig.
„Außer ihrem Namen, ihrem Alter und dem Zeitpunkt ihres Abschieds: Weißt Du noch irgendetwas über Wiebke?“
„Nein. Wenn ich Anne – so wie Du jetzt - nach Wiebke fragte, machte sie gleich zu. Ich glaube, sie war und ist eifersüchtig auf Wiebke. Das ist krank, das weiß ich, aber ich kann mir ihr Verhalten sonst nicht erklären. Nur durch einen Zufall hatte ich ein paar Fotos von Wiebke bei Euch gefunden. Ansonsten hat Anne alle vernichtet.“
„Außer dem Bild, das ich in meinem Kopf habe.“, antwortete ich nach einer Pause. „Danke, Kuki und tu mir jetzt einen Gefallen: Geh bitte.“
Nach langer Zeit stummer Zwiesprache mit meiner verbliebenen Vergangenheit – dem Grabstein und einem Bild namens Wiebke in meinem Kopf, also meinen Wurzeln, wie der Journalist es ausgedrückt hatte - stand ich mit dem Entschluss auf, mein Leben hinter mir zu lassen. Über die Schulter blickte ich zurück, sah nur noch den Mond und zeigte ihm den Mittelfinger.
VI.
Es lässt sich nicht leugnen: Ich bin ein Linkshänder. Also blieb ich dabei, meine linke Hand zu benutzen und ignorierte die rechte. Egal für welche ich mich entschieden hätte, jede Entscheidung schien fraglich. Denn die rechte Hand war Annes, die linke war Pauls. Aber ich bin Linkshänder, also habe ich Annes Umpolung revidiert.
Mittlerweile, gut und gerne fünf Jahre nach dem Friedhofsbesuch, weiß ich, dass eine Umschulung der Händigkeit wie eine Vergewaltigung ist. Es hat erhebliche Konsequenzen für die Persönlichkeit und die Identität. Aber so was scheint ja in der Tradition meiner Gene zu liegen: Vergewaltigung und Missbrauch.
Immerhin bin ich freischaffender Künstler geworden, habe mir auf dem Amt für geringes Entgelt einen Namen gekauft, unter welchem ich nicht nur meine Bilder veräußere, sondern auch den Rest meines Lebens bestreite. Der Alias, der Avatar, ist mir zur Krücke bei jedem meiner öffentlichen Schritte geworden.
Aber ich weiß, dass ich nicht dieser Phantasiename bin, dazu bin ich zu sehr der Sohn von diesem Paul. Und das ist leider nicht nur eine Frage der Linkshändigkeit. Sich wie van Gogh das Ohr abzuschneiden, wird mir wahrscheinlich nicht helfen.
Epilog:
Ich las: „Lehnen Sie sich zurück, schließen Sie die Augen und erinnern Sie sich daran, wie Sie heute morgen gefrühstückt haben. Lesen Sie nicht weiter, sondern konzentrieren Sie sich.“
Ich folgte den Anweisungen und sah mich aus der Vogelperspektive von hinten, wie ich am Tisch vor meiner Kaffeetasse saß. Und dann las ich, dass ich genau das sehen würde, aber dieses Bild nie selbst habe sehen können. Es sei eine Illusion, denn mit Sicherheit sei niemand hinter mir gewesen, der diese Aufnahme hätte machen können.
Da fragte ich mich, wer meinen Film, in dem ich der Hauptdarsteller bin, eigentlich dreht? Wer filmt meine Erinnerungen so, als seien sie von einem anderen und suggeriert mir, dass alles ich sei?
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Kritiken zur KG „Aktionspotenziale“ (Brotnic2um)
Margot:
„Aktionspotenziale“ / 5000 Wörter / erhalten 12.09.07
Stil, Bilder (Max. Punkte 10)
Flüssig zu lesen mit nachvollziehbaren Dialogen / etwas undurchsichtig, wo das Ganze spielt. Zuerst sehr amerikanisch (Mum, Shopingmall), dann wieder deutlich deutsch / Anne (der Name) wird zu abrupt eingeführt = Verwirrung (wer ist Anne? Ah, die Mum!) / Die Sequenz mit der Grossmutter (inkl. der Selbstbefriedigung) ist zwar sehr schön, hat aber keine Relevanz für die Geschichte / das Philosophieren über die umgepolte Linkshändigkeit gefällt, ist aber atypisch für eine KG, gibt der Geschichte jedoch Tiefe / die Sequenzen in der Schule lockern zwar auf, wirken aber auch etwas bemüht und auf Lacher gezielt / wechselnde Orte und Zeiten (inkl. Prolog und Epilog)sind wieder atypisch für eine KG
Punkte 8
Idee, Innovation (Max. Punkte 10)
Die Idee, dass jemand seine richtige Mutter nur als Baby gesehen, sich aber später noch an das Gesicht „erinnern“ kann gefällt / das Thema ‚linkshändig’ und die daraus resultierende Entwicklung inkl. der Probleme und Beeinflussung auf Charakter und Leben finde ich auch sehr gut
Punkte 9
Formale Gesichtspunkte (Max. Punkte 10)
Rechtschreibung und Grammatik gut mit kleinen Flüchtigkeitsfehlern (Satzzeichen und Zeitformen) / die Sprache passt zu dem gewählten Thema und den Protagonisten
Manko: kein offener Schluss. Dem Leser wird das Danach noch mitgeteilt… er muss also nichts „arbeiten“ / zu umfangreich für eine KG, eher eine Novelle
Punkte 8
Total 25 / 8,3
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Arno Boldt:
Aktionspotenziale
Eine durch und durch ansprechende, da kohärent erzählte, Geschichte mit Tiefe und tragik-komischen Momenten. Die Spannung war greifbar und ließ keinen Augenblick lange Weile aufkommen. Die ein oder andere Anmerkung habe ich aber dennoch: Warum wird irgendwann unvermittelt der Name „Anne“ eingeführt, ohne darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um die Mutter handelt? Warum nennt der Erzähler seine Mutter in einem Moment der innigen Vertrautheit „Anne“, anstatt Mum? Die Distanziertheit kann ich dort nicht nachvollziehen. Dass man den Namen einbauen musste, weil dann später der Journalist drauf zu sprechen kam, ist natürlich nachvollziehbar. Die Reaktion der Mutter, als sie das vermaledeite Bild sah, war schon heftig – und ich hoffte, dass es einen entsprechenden Grund dafür gab. Es gab ihn (gottseidank). Die Haupt-Personen wurden sehr gut charakterisiert – es entstand bei all denen plastische Bilder. Ein rundes Ding von vorn bis hinten. Insgesamt 8,7 Punkte.
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Fabian:
Aktionspotenziale:
Sprache/Stil: 8/10
Inhalt/Idee: 9/10
Satzbau und Form: 8,5/10
Bewertung: 8,5
Platz 1
Kritik:
Die längste und mit Abstand umfangreichste Geschichte. Mit ein paar Abstrichen, wie dem eigentlich unbefriedigenden Ende, gefiel sie mir sehr gut.
Sie beginnt mit einem Rätsel und baut danach ihren Handlungsstrang geschickt auf, bis sich schließlich alles aufklärt. Gelungener Plot.
Sehr gut gefiel mir das Einbringen von Überlegungen und Theorien zum Thema „Rechts/Links“. Das gibt der Geschichte zusätzliche Tiefe und Hintergrund.
Man hat hier das Gefühl, dass jemand wirklich eine Geschichte zu erzählen und sich intensiv damit beschäftigt hat.
Insgesamt ist sie gut erzählt und sprachlich und formal überzeugend, abgesehen von kleineren Fehlern, wie z.B. der Frage, warum der Junge zuerst jedem Smalltalk aus dem Weg geht und dann scheinbar abrupt zu jemandem wird, der alles und jeden Scheiß bis zum Erbrechen ausdiskutieren muss.
Folgt ein Komma, wird am Ende der Wörtlichen Rede kein Punkt gesetzt!
Die Idee hinter der Story ist gelungen und interessant. Abstriche gab es nur am Ende, das etwas abfällt und den Leser ziemlich unbefriedigt hinterlässt.
Erstens: Welche Rolle spielt Wiebke denn nun wirklich in dieser Geschichte? Im Grunde ist sie hier nur Statist, denn der Mutter ging es bei der Umpolung des Jungen nur um das Verdrängen des Vaters bzw. ihres Mannes, und auch der Junge selbst reflektiert am Ende nur die Positionen von Stiefmutter und Vater.
Es stellt sich aber die Frage, warum er nicht versucht, seine leibliche Mutter und Schwester zu finden, die ja offensichtlich als einzige Person keine Schuld an irgendwas trägt. Es wird zwar erwähnt, dass sie mit sechzehn abgehauen ist, aber aufgrund der Umstände und den Vergewaltigungen seit ihrer frühsten Kindheit ist das mehr als nachvollziehbar. Es hätte schon gereicht, wenn er sich vornähme, sie zu finden und mit ihr zu sprechen. Scheinbar verdrängt er aber lieber, dass seine Schwester auch seine Mutter ist.
Zweitens: Was ist eigentlich mit der Ausgangsüberlegung? Rechts-Gut/Links-Böse
Auch darauf wird am Ende nicht mehr wirklich eingegangen. Es wird zwar angedeutet, dass es in diesem Falle keine Rolle spielt, weil ja Mutter(Rechts) und Vater(Links) beide auf ihre Weise böse waren, aber das reicht mir in diesem Zusammenhang nicht aus. Um den Kreis wirkungsvoll zu schließen, hätte man noch einmal kurz zum Anfang zurück und damit auf die vielleicht entscheidende Aussage kommen können. „Man ist, was man ist“.
Fazit: Für mich die beste Geschichte, was Komplexität und Verschachtelung betrifft. Sehr gelungen sind Randinformationen und Überlegungen zum Rechts/Links Thema. Immer noch ausbaufähig, aber in diesem Rahmen als Gesamtpaket überzeugend.
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[zurück zur Gesamtbewertung]
Prolog
Meine einzige Erinnerung an die Zeit, als ich ein Kleinkind von vielleicht vier Jahren war, ist die, dass Mum mit einem vollbeladenen Tablett in der Hand vorüberging, es schaffte, mir, der ich traumverloren am abgeräumten Esstisch saß und malte, den Wachsmaler von der linken in die rechte Hand zu stecken. Vielleicht hat sie dafür das Tablett auch abgestellt, vielleicht auch Dad angegiftet, er solle mehr auf mich achten, denn vielleicht lag Dad schon satt und rund in seinem Sessel und spielte mit der Spieluhr. Und vielleicht betrachtete er versunken, die sich anmutig und verführerisch auf dem Teller drehende und Geige spielende Fee? Vielleicht.
I.
Sie sagte es mir, als wir in die neu eröffnete Shoppingmall fuhren, um die zur Eröffnung üblichen Sonderangebote auszunutzen. Ich hatte gerade die Schule beendet und war dabei, mich zu entscheiden, wie es weitergehen sollte.
„Mum, wir müssen links abbiegen.“, dirigierte ich sie durch den dichten Verkehr.
Mum nickte und fuhr rechts rum und ich bemerkte, dass ich auch rechts gemeint hatte. Aber wie konnte sie sich so sicher sein, denn wir fuhren in keinem uns bekannten Viertel?
„Das ist alles meine Schuld.“, sagte sie plötzlich, ohne mich anzublicken.
„Was ist deine Schuld?“
„Deine Schwierigkeiten mit links und rechts und so.“
„Was meinst Du?“
„Ich habe Dich umgestellt. Von links auf rechts. Ich hatte gedacht, das würde es Dir einfacher machen.“
„Wovon redest Du?!“
Sie musste vor einer Kreuzung anhalten und blickte zu mir. Sie war nicht den Tränen nahe, aber sie sah mich so an, als wäre ich nicht ihr neunzehnjähriger Sohn, sondern ein völlig Fremder gewesen.
„Von meinen Fehlern rede ich, hörst Du? Es tut mir leid. Ich dachte, dass es in einer Welt, in der vorrangig Rechtshänder leben, einfacher für Dich wäre, wenn Du nicht ständig umdenken müsstest, verstehst Du? Es leichter für dich wäre, wenn Du auch im Uhrzeigersinn ticken würdest.“
„Du meinst richtig rum?“, fragte ich stutzig.
„Ja.“
„Dann bin ich eigentlich andersrum?“, grinste ich sie nach einer kurzen Pause an und war froh, einen Ausweg gefunden zu haben, dieses mir unangenehme und mir von meiner Mum unvermittelt aufgezwungene Thema beenden und das Gespräch in andere Gefilde lenken zu können.
„Blödmann.“, lachte sie mich an. „Du und andersrum – pfff.“
Und bevor Mum zu irgendwelchen Peinlichkeiten aus meiner Vergangenheit ausholen konnte, brach hinter ihr ein Hupkonzert aus. Ich nahm es zum willkommenen Anlass, mich umzudrehen und den nachfolgenden Rumhupern wilde Gesten zu machen und war erleichtert, als wir endlich weiterfuhren.
Wir sprachen nie wieder darüber. Aber in der Nacht jenes Tages, an dem sie mir ihren Fehler gebeichtet hatte, starrte ich meine linke Hand an und fragte mich, was in ihr stecken mochte.
II.
Mir wurde in jener Nacht bewusst, dass linkisch und link Schimpfworte sind und dagegen die rechtschaffenen Begrifflichkeiten stehen. Ich erinnerte mich, weil Mum und ich, als wir noch im Dorf bei Großmutter lebten, jeden Sonntag in die Kirche gingen und viel aus der Bibel und anderen kirchlichen Büchern lasen und singen mussten, dass die Männer rechts und die Frauen links in der Kirche saßen. Wenn ich mir die Bildnisse von der Kreuzigung Jesu in Erinnerung rief, gewahrte ich, dass Jesus immer nach rechts schaute und dort die Besseren standen. Dort war Maria und nicht Johannes, dort war keiner verhüllt oder am Straucheln. Dort war das Licht und nicht der Schatten. Über der linken Schulter des Erlösers aber prangte der Mond und zu seiner Linken, auf der Seite, auf die er nicht sah, führten Höllenknechte Sünder in einen tiefen Schlund.
Ich erinnerte mich, dass Großmutter Ingeborg immer tadelnd ihre rechte Augenbraue hochzog, wenn ich sie mit der linken Hand begrüßen wollte. Wir waren bald nach Dads Unfalltod – ich war gerade fünf Jahre alt geworden, als es passiert war – bei Großmutter eingezogen und blieben lange bei ihr wohnen.
Generell war Großmutter nicht amüsiert, wenn ich mit meiner Linken agierte. Wenn Ingeborg ihren Mund zu einem Strich zusammenzog, dabei die Glieder ihrer schweren Perlenkette durch ihre faltigen Finger gleiten ließ und insgesamt zu einer Statue der Strenge gefror, bekam ich eine undefinierte, fürchterliche Angst vor dieser Frau und fing wieder an zu stottern.
Meine Mum schämte sich lange wegen meiner Stotterei. Schnell hieß es im Dorf, ich sei zurückgeblieben. Was sich eben auch an meiner Sauklaue und Rechtschreibschwäche manifestierte. Ich wusste es besser und arbeitete an mir. Ich wollte nicht, dass Mum sich für mich schämte. Ich behielt zwar meine krakelige Schrift, aber ich bekam es hin, nicht mehr zu stottern.
Aber wenn ich vor Ingeborg strammstehen musste, weil sie mich bei irgendetwas ertappt hatte und sie mich lange anschwieg und ich nur das Aneinanderklicken ihrer Perlen und das Ticken der großen Wanduhr hörte, bis sie mich endlich fragte, was ich mir denn dabei nun wieder gedacht hätte, da konnte ich nicht anders, als stotternd zu antworten. Aber es war kein Stottern aus Verlegenheit. Es war der Druck, richtig funktionieren zu müssen, den mich die alte Frau immer und immer wieder spüren ließ. Sie aber schien das zu amüsieren.
Allerdings war keiner von uns beiden mehr amüsiert, als – da war ich zwölf - sie plötzlich in mein Zimmer gekommen war, während ich dabei war an mir herumzuspielen. Ich war wie erstarrt und wagte keinen Muskel zu bewegen. Hätte sie länger in der Tür gestanden, wäre ich wahrscheinlich erstickt.
„DAS solltest Du wenigstens mit links machen!“, fauchte sie und ließ die Tür wieder krachend ins Schloss fallen.
Die nächsten Tage und Wochen war ich wie paralysiert und schämte mich in Grund und Boden. Mum realisierte wohl, wie schlecht es mir ging und dass ich Großmutter, wo ich nur konnte, auswich und so war es ein glücklicher Tag, als wir ein gutes halbes Jahr später nach diesem Vorfall Ingeborg wieder verließen und unsere Zelte in der Stadt aufschlugen.
Mum hatte über einen Bekannten, Onkel Kuki, einen Job in einer Zeitungsredaktion als Schreibhilfe bekommen. Wir hatten Großmutter seither nie wieder gemeinsam besucht. Ich glaube, sie hat ihre Mutter danach sowieso nur noch selten alleine gesehen oder gesprochen.
Ich war und blieb auch in der Stadt der verbissene, kleine Junge. Ein Eigenbrötler mit wenigen Freunden, eher Bekannten als Freunden. Hin und wieder unternahm man etwas. Für Kino konnte ich mich immerhin begeistern. Alles andere, wo ich hätte mehr reden müssen – heute sagt man small talk dazu - war mir aber ein Graus. Insgesamt tat mir die Stadt aber gut. Erst war ich verstört von der Vielzahl der Menschen, aber ich begriff schnell, dass die allermeisten, denen ich begegnete, mich gar nicht wahrnahmen und ebenso wenig Interesse wie ich daran hatten, Kontakt zueinander aufzubauen. Nachdem ich das begriffen hatte, ging es mir besser.
Ich schaffte den Sprung aufs Gymnasium und ich frönte einem Hobby: Aktionspotentiale. Ich liebte es, die Steinchen in von mir erdachten Welten aufzubauen und durch meine selbst konstruierten Apparaturen zu führen. Es bedarf einer ruhigen Hand und Präzision. Zwar ermüdete ich schnell beim Bauen, dass ich mit rechts erledigte, aber der optische und akustische Genuss, wenn die Steinchen in einem gleichbleibenden Stakkato fielen und die Befriedigung, wenn alle Steine gefallen waren, die waren mir jede Mühe Wert.
Mum hielt es für extrem nervend, in einer kleinen Wohnung solche Domino-Landschaften aufzubauen und für total bescheuert, sein Wochenende damit zu versauen. Aber sie steuerte die teuren Steine bei und baute – unter genauester Anweisung von mir – auch selbst mit.
Sie hatte es irgendwann aufgegeben, mich aus meinem Schneckenhaus rausziehen zu wollen. In meiner Pubertät hatten wir uns ein paar Mal über mein angeblich kaum zu ertragendes Desinteresse an allem Menschlichen gestritten. Aber bald schon kapitulierte sie: „Du bist so ein Sturkopf!“ und „ein elender, kleiner Rechthaber“. Damit beendete sie frustriert ihre Erziehungsversuche.
Sie hatte viel auszustehen, als ich älter wurde. Daher versuchte ich stets, meine Mum nicht noch durch schulische Scherereien zu belasten. Ich wollte gut funktionieren. Es langte sogar zu einer guten Matura und unter Mitschülern und Lehrern zum zweifelhaften Ruf eines nervtötenden Diskutanten, der, wenn auch selten, aber wenn, dann beharrlich, immer und immer wieder auf einem einzigen Punkt herumreiten konnte. „Der Ja-Aber“, so nannten sie mich gerne. Aber es ging mir halt gegen den Strich, wenn eine Ausgangsthese ungenau formuliert und eine Diskussion schon dadurch falsch begonnen worden war. Entsetzlich.
Aber mit Rechthaberei war es nun vorbei. Auf einmal war ich kein Rechthaber mehr, sondern ein Linkshänder geworden und mir fielen diese Kleinigkeiten an mir auf: Außer bei unserer Zeit bei Ingeborg, tauschte ich beim Essen sofort Messer und Gabel an ihrem Platz. Oder ich nahm Scheren grundsätzlich in die linke Hand. Zwar spielte ich kaum Fußball, aber wenn, dann spielte ich auf der linken Seite und warf mir jemand etwas zu, fing ich es mit meiner starken Hand auf: der linken. Die Linke war auch stets meine Schlaghand.
All diese Kuriositäten gingen mir in jener Nacht durch den Kopf. Vielleicht nicht so konkret, aber vieles, was ich oder andere als Spleen oder Kuriosität abgetan hatten, schüttelte mich nun durch. Ich sah meine linke Hand an und fragte mich, wie viel von mir in ihr stecken mochte und was noch vergraben war. Schließlich machte ich das Licht aus und fand keine Ruhe mehr.
III.
Am nächsten Tag fasste ich einen heimlichen Entschluss: Von nun an wollte ich alles mit links machen. Nach nur wenigen Wochen stellte ich fest, welche Fortschritte ich gemacht hatte. Meine Schrift entwickelte und verbesserte sich. Mit jeder Zeile, die ich mit links schrieb, stieg mein Selbstbewusstsein. Jede Zeile, die ich schrieb, veränderte, ja befreite mich. Es ging wie von selbst, dass die Menschen mir auf einmal näher waren als je zuvor. Ich konnte mit ihnen über alles Mögliche reden und in einer Diskussion, die ich früher nur über Dinge, aber nie über Menschen geführt habe, verzichtete ich freiwillig auf das letzte Wort. Der Witz war, dass Anne überhaupt nicht mitbekam, dass ich dabei war meine Händigkeit wieder zurückzustellen. Natürlich lag es auch daran, dass ich wenige Monate nach meinem Entschluss, einen Studienplatz erhalten hatte und in eine WG in einer anderen Stadt gezogen war. So besuchte ich sie nur noch hin und wieder. Sie war aber glücklich, dass ich endlich aus mir herausgefunden hatte. Warum das so war, wollte sie nicht erkennen. Allerdings schockte ich sie noch einmal, als ich kurz darauf auch aus der Kirche austrat. Sie hielt es einen Monat lang durch, mich zu verstoßen, danach nahm sie den Hörer ab und redete mit mir und ich durfte sie auch wieder besuchen.
Ich studierte zu dieser Zeit Architektur. Das Fach erschien mir damals goldrichtig zu sein. Es erforderte Pedanterie, Perfektionismus im Detail und war mathematisch anspruchvoll. Ich liebte den Bauhausstil und seinen Funktionalismus. Alles Überflüssige war dort gestrichen. Je mehr ich aber meinem neuen Steckenpferd – dem linken Leben – frönte, desto häufiger langweilte mich auch das Alte. Neugierig betrat ich neue Welten und war offener, etwas auszuprobieren.
So nahm mich eines Tages ein Kommilitone zu einem Zeichenkursus der Volkshochschule mit, der neben Zeichenübungen auch Selbsterkenntnis versprach. Natürlich hatte ich in meiner Vergangenheit schon gemalt und gezeichnet. Recht passabel sogar, wobei ich mich ausschließlich auf das Abzeichnen konzentriert und mich für perspektivische Raffinessen interessiert hatte.
Zwar hatte ich eigentlich komplett auf links umgestellt, aber bei den Zeichnungen in den Seminaren und Übungen für das Architekturstudium vertraute ich – weil es um Exaktheit ging - weiterhin der rechten. Der Volkshochschulkurs schien mir eine gute Gelegenheit zu sein, meine linke Hand weiter zu trainieren, um sie bald auch an der Uni einsetzen zu können.
„Schließt bitte die Augen. Versucht alles um Euch herum zu vergessen. Macht Euren Kopf leer. Lasst Euch fallen. Leere ist der Beginn allen Schaffens. Wir wollen einen leeren Kopf, ein leeres Blatt.“ Immer monotoner werdend sprach die Lehrerin des Kurses weiter und ich ließ mich auf dieses Spiel ein.
„Provoziert keinen Eindruck, provoziert keine Erinnerung. Sucht nichts. Lasst das Bild Euch finden.“
In diesem Moment hörte ich den Klang von Dads Spieluhr und ich sah die fiedelnde Fee und wie sie sich im Kreis drehte. Ja, ich sah sogar ihr Gesicht. Es war meinem eigenen ganz nah, so als würde sie mich betrachten und ich stünde auf dem sich drehenden Karussell.
Darauf hatte es die Kunsterzieherin und Meisterin irgendeiner fernöstlichen spirituellen Yoga-Tantra-Vertiefungslehre abgesehen - ein kräftiger Eindruck, ein Gedankenflash aus dem Nichts. Diesen Eindruck, sofern erfahren, sollten wir erst mit dem Herzen festhalten und ihn dann aufs Papier bannen.
Meine linke Hand zeichnete das Gesicht der Fee. Meine linke Hand wusste, dass sie nicht links oben, in der Ecke anfangen musste, um zu zeichnen, so wie es die meisten Rechtshänder tun; stattdessen eroberte sie das Gesicht der Fee von der Mitte aus und malte wie in Trance.
„Wow. Wer ist das denn?“
Ich bekam erst gar nicht mit, dass Eric mit mir über mein werdendes Bild sprach.
„Na sag schon. Ist das deine Freundin? Nee, dazu ist das Mädel auch zu jung. Warum hast Du eigentlich keine Freundin?“
„Halt die Klappe, stell Dir nicht irgendwelche Fragen und mach mal einen Punkt! Ich weiß nicht, wer das ist. Das Gesicht war auf einmal da. Es war das Gesicht einer Fee.“
Eric sagte nichts mehr und sah mich mit großen Augen an. Langsam wurde mir bewusst, was er da wahrscheinlich missverstand und ich entschloss mich, ihm die Geschichte von der Spieluhr zu erzählen. Aber irgendwie wollte er nicht verstehen.
„Du erzählst mir, Dein Vater hat gerne mit einer Spieluhr gespielt? Und das Gesicht hier, ist das Gesicht einer Figur von der Spieluhr? Was für Drogen nimmst Du?“
„Du hast doch echt keine Ahnung. Das ist es, woran ich mich erinnere und nun ist Feierabend. Schnauze voll!“
Madame Yoga rauschte herbei und bat uns, doch nicht so aggressiv zu sein; wir würden die anderen stören.
„Kein Problem, ich wollte sowieso gerade gehen.“, murmelte ich. Kurz entschlossen raffte ich mein Zeug zusammen, rollte das Bild ein und verließ die Szenerie.
Schlechtgelaunt verbarrikadierte ich mich in meinem Zimmer in der WG. Nein, ich wollte nichts essen und ja, ich werde meinen Putzdienst morgen antreten. Ich war von den anderen so genervt wie damals, als mir jede Begegnung mit einem Menschen wie eine Prüfung erschienen war, wo ich mich immer zusammenreißen musste, um zu funktionieren. Ich atmete tief durch. Warum, zum Teufel, hatte ich mich so über Eric geärgert? Nebenbei holte ich das Bild aus der Tasche, rollte es auf, sah es an und wusste, dass Eric Recht und ich mich kindisch benommen hatte. Das Gesicht einer Puppe, einer Figur, sieht anders aus. Aber wer war sie?
IV.
„Du siehst schlecht aus. Hast viel zu tun, gell?“
„Ja, es ist anstrengend.“, vor allem, wenn man sich - wie ich - nicht ausreichend mit dem beschäftigt hatte, womit ich mich eigentlich hätte beschäftigen sollen. Aber das sagte ich nicht. Noch nicht. Nach dem Projekt Selbsterfahrung durch Malen und Zeichnen hatte ich angefangen, mich mehr mit der Kunst und der Malerei zu beschäftigen als mit der Architektur und ihren zähen Grundlagen. Aus der Spielerei wurde Hobby, dann Leidenschaft, schließlich sogar – durch lukrative Nebenjobs - Broterwerb.
Fakt war: Ich hatte keine Lust mehr auf Papiermodelle und hektische Bastelabende in letzter Minute, um Abgabetermine einzuhalten. Der Architekt und Baumeister in mir war gestorben, aber meine Bewerbungsmappe für einen Platz in einer Kunstakademie war stattdessen kontinuierlich gewachsen.
An einem sonnigen Sonntagnachmittag wollte ich Mum bei Kaffee und Kuchen in meine neuen Pläne einweihen. Dazu hatte ich die Mappe mitgenommen, wartete aber auf eine passende Gelegenheit.
Mum schenkte mir noch mal Kaffee nach und bemerkte ganz beiläufig:
„Nun zeig schon her, was Du da in Deiner Mappe hast. Du hast doch was auf dem Herzen?“
„Danke, Mum. Ich habe angefangen, zu malen und zu zeichnen. Das wollte ich Dir zeigen.“
Mum war nicht erfreut. Sie war skeptisch. Ich machte auf dem Tisch etwas Platz und legte ihr meine Mappe hin.
„Schau es Dir bitte an, bevor Du was sagst.“
„Na, dann wollen wir doch mal sehen.“, sagte sie, löste die Haltegummis und wendete mit leicht zitternder Hand den Deckel. Mir fiel mit einem Mal auf, dass Mutter in den letzten drei Jahren mindestens zehn Jahre älter geworden war. Sie war eine alte Frau geworden. Ich war wie vor den Kopf gestoßen und nahm erst gar nicht wahr, wie sie auf die von mir geplante Überraschung reagierte. Denn das erste Blatt in der Mappe war ein Portrait von ihr. Zu jung, wie ich jetzt dachte.
Sie hatte ihre rechte Hand vor dem Mund und sie weinte leicht vor Rührung, so sehr gefiel ihr, was sie sah.
„Ist das schön. Danke. Und so gut gezeichnet.“, und ähnliches mehr flüsterte sie. Ihre Skepsis – was ihr Sohn da wohl mitgebracht hatte – war Rührung und Begeisterung gewichen. Als sie die Signatur bemerkte: „Meiner Mum.“, war es ganz um sie geschehen. Sie brauchte einige Minuten, um sich wieder zu sammeln und zu fangen.
Sie blätterte. Wir plauderten. Diskutierten. Ob ich mir denn dieses Mal sicher sei? Ich nickte und gab mich auch selbstkritisch.
Die Landschaftsmalereien beeindruckten sie nicht so sehr wie die Zeichnungen, die ich von meinen Mitbewohnern angefertigt hatte. Sie wollte wissen, wie alle heißen und interessierte sich vor allem für die Portraits meiner Mitbewohnerinnen. Wahrscheinlich hoffte Sie so, einen Blick auf ihre zukünftige Schwiegertochter werfen zu können.
„Ich hätte nie gedacht, dass Du Gesichter so lesen kannst. Ich hatte schon vermutet, dass Du Dich nur mit Steinen und Dingen beschäftigen kannst. Und jetzt das.“
„Du bist also einverstanden, wenn ich nochmal von vorn beginne, Anne?“
Mit ihren großen, runden Augen und einem strahlenden Lächeln nickte sie mir zu, legte das vorletzte Blatt zur Seite und erstarrte. Jeglicher Frohsinn, jegliche Zuversicht, alle Liebe war mit einem Schlag aus ihrem Gesicht gewichen, als sie das letzte Bild sah.
„Mum?“
Sie reagierte nicht. Ich ließ ihr etwas Zeit.
„Mutter?“, wiederholte ich zärtlich.
Sie riss, als ob ich einen Befehl gegeben hätte, den Kopf zu mir hoch. Mit einem mir fremden Gesicht starrte sie mich an.
„Du wagst es!“, schrie sie mich an. „Du wagst es! Du!?“
„Mum! Was ist los?“, rief ich und hielt ihre Arme fest in meinen Händen. Sie war drauf und dran gewesen, mir ins Gesicht zu schlagen oder es mir zu zerkratzen.
Statt mir zu antworten, spuckte sie mich an, riss sich los, floh in ihr Schlafzimmer und verbarrikadierte sich.
Sie heulte wie ein Hund und brüllte immer wieder, ich solle abhauen, ich solle mich nie wieder blicken lassen. Ich sei ein undankbares Balg und hätte nichts verstanden.
Minuten? Stunden? Keine Ahnung, wie lange ich noch geblieben war, wie lange ich versucht hatte, Anne irgendein vernünftiges Wort zu entlocken oder zu hoffen, dass sie wieder die Tür öffnete und mich nach Hause ließ. Denn sie war die einzige Heimat, die ich hatte. Aber sie war wie von Sinnen, am Ende sang sie sogar Kirchenlieder. Und wenn ich es wagte, vor ihrer verschlossenen Tür kniend, einzustimmen, dann schrie sie wie am Spieß und keifte, ich solle das Maul halten, ich hätte für alle Zeit mein Recht verwirkt, der Gnade des Herrn teilhaftig zu werden. Ich hätte mich doch schon längst anders entschieden.
„Geh endlich weg! Geh weg.“, das war noch das Vernünftigste, was sie mir durch die verschlossene Tür zu sagen hatte. Irgendwann ging ich dann auch.
V.
Ein paar Tage später sah ich mich erstmals wieder bewusst im Spiegel an. Ich sah fürchterlich aus. Bis auf Eric hatten alle Bewohner der WG einen großen, aber rein zufälligen Bogen um mich herum gemacht. Das heißt, sie waren froh, wenn sie es vermeiden konnten, mich zu sehen oder mit mir reden zu müssen.
Eric wagte es trotzdem, weiter nach meinem Befinden zu fragen, obschon ich ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er für sein Seelenheil ein anderes Robbenbaby retten müsse. Aber statt beleidigt zu sein, hakte er weiter nach.
Bald gab ich nach und erzählte ihm die Geschichte, die sich mit meiner Mum zugetragen hatte, und natürlich wollte er das letzte Bild in der Mappe sehen.
„Das kenne ich doch, oder nicht? Das ist das von damals aus dem Kurs, oder nicht?“, fragte er mich leicht triumphierend.
„Ja. Genau das ist es.“, antwortete ich etwas kleinlaut.
„Ich finde, Du solltest rauskriegen, wer das ist. Vielleicht fragst Du mal Deine Oma oder so? Die lebt doch noch, oder? Hast Du mit mir eigentlich jemals über Deine Familie gesprochen?“
„Eric, danke! Aber Du hast Recht. Ich werde etwas unternehmen.“
Ingeborg aufzusuchen, kam mir natürlich nicht in den Sinn, aber als Eric darüber nachgedacht hatte, wer mir helfen könnte, das Geheimnis der Fee zu lüften, war mir spontan wieder Kuki eingefallen.
Die Recherche nach Kuki war leichter als ich gedacht hatte. Seinen richtigen Namen kannte ich zwar nicht, aber sein Spitzname war selbst den Redaktionen ein Begriff, für die er nicht gearbeitet hatte. Kuki war schon in Rente, aber noch umtriebig genug, dass er häufig in seiner alten Redaktion vorbeischaute, in der Hoffnung, doch noch die ein oder andere Geschichte platzieren zu können. So erhielt Kuki relativ zügig die Nachricht, dass der Sohn einer alten Freundin ihn sprechen wolle.
Mein Telefon klingelte. Ich nahm ab.
„Was gibt’s?“, fragte mich eine ziemlich verrauchte, alte Stimme. Kein Zweifel: Kuki.
„Das ist kompliziert.“
„Versuchs in drei Sätzen.“
„Ich habe meiner Mum ein Bild gezeigt, sie ist vollkommen ausgeflippt und hat mich verstoßen.“
„Was für ein Bild?“
„Eine Zeichnung. Genau genommen ist es eine Portraitzeichnung.“
„Kannst Du mir das Bild faxen?“
Ich konnte. Aber ich musste länger als eine Woche auf eine Antwort warten. Dann endlich rief er an.
„Wir müssen uns treffen.“, begann er ohne Umschweife.
„Weißt Du, wer sie ist?“, fragte ich.
„Wir treffen uns, wir reden und alles andere ergibt sich.“
„Und wo treffen wir uns ?“
Eine halbe Stunde früher als ausgemacht war ich am Treffpunkt. Noch etwas früher war ich in meinem alten Dorf angekommen und hatte mich schon ausreichend gewundert, wie klein alles geworden war. Wie fremd mir alles erschien, die Schule, die Häuser und erst recht der eh nur selten von mir besuchte Spielplatz. Auch die Straßen schienen mir schmal und klein zu sein.
Angenehm überrascht war ich, als ich Ingeborgs Haus entdeckte. Es war nicht nur klein, es war mickrig. Ich fragte mich, ob heute Ingeborg anfangen würde, zu stottern, wenn ich ihr plötzlich begegnete? Sie müsste noch leben, denn auf ihrer Beerdigung war ich nicht gewesen. Aber der Anflug von später Genugtuung verflog schnell wieder und statt dessen fragte ich mich, was aus der kleinen, alten Frau wohl geworden ist?
Von Ingeborgs Bleibe sind wir jeden Sonntag zur Kirche gegangen. An der Dorfkneipe vorbei, die auch heute wieder zum Kegelabend rief, und ein Stück den kleinen Hügel hinauf, erreichten wir die irdischen Himmelspforten. Als Magnet, Mittelpunkt und Monstrosität ragte das romanische Prachtstück aus der dörflichen Optik hervor. Nein, lächerlich erschienen mir das Schiff und der Turm nicht, aber ich empfand weder Ehrfurcht noch flößten sie mir einen Schrecken ein. Kurz schaute ich hinein, ob Jesus noch am Kreuz hängt und fühlte mich bestätigt, dass hier alles noch am selben Platz stand und hing.
Kurz nach meiner Stippvisite am Altar, befand ich mich am Treffpunkt. Zu früh und ohne Idee, warum Kuki mich ans Grab meines Vaters bestellt hatte, saß ich auf einer Bank vis-a-vis dem vergrabenem Vater. Ich hatte ihn nicht vermisst. Er war nur ein Bild, eine Figur, eine meist stumme Erinnerung. Und während ich mich auf der Bank sitzend fragte, welche Empfindung ich angesichts seines Grabes haben sollte, schlossen sich plötzlich alte, aber kräftige Hände von hinten um meine Schultern.
„Wurzeln. Jedes Leben, jedes Schicksal hat Wurzeln. Da ist Deine Wurzel.“ Kukis Stimme war noch rauer als am Telefon. Ich wollte mich umdrehen, doch behände und mit Druck drehte er meinen Kopf wieder Richtung Grab.
„Da liegt Paul. Und Paul ist Dein Vater. Aber Anne ist nicht der Name Deiner Mutter.“
Ich weiß nicht, wie er meine Hände, meinen Kopf weiterhin kontrollierte, denn ich wollte einfach aufstehen, Kuki auslachen und anspucken, aber seine Hände waren überall und hielten mich und meinen Blick starr auf Dads Grab gerichtet.
„Anne hat alles für Dich geopfert. Sie stand immer an Deiner Seite; sie hat sich für Dich verleugnet. Aber wenn Du nach Deinen unmittelbaren Wurzeln fragst, dann gehört Anne nicht dazu.“
„Sag mir nicht, wer meine Mutter ist, sag mir, wer das auf dem Bild ist, oder lass es.“, erwiderte ich zornig.
„Deine Mutter und Deine Schwester.“, antwortete er knapp und ließ mich los. „Ich konnte es Dir nur hier... ich hätte es nicht übers Herz gebracht, wenn Du mich angesehen hättest.“
Eigentlich wollte ich aufspringen, wegrennen, flüchten oder wenigstens dem alten Sack eins in die Fresse hauen. Aber so, als hätte ich ein Bleigewicht am Hintern, eine unsichtbare Fixierung am Körper, blieb ich bewegungslos sitzen. Meine Schwester? Meine Mutter? Ich glaubte Kuki. Aber ich verstand es nicht und trotzdem wurde mir speiübel. Ich konnte meinen Blick nicht mehr von Pauls Grabstein lösen. Dieser Endstein war der letzte Anker meiner Identität Ich hätte mir einen lebendigeren und angenehmeren gewünscht.
„Was ist mit ihr passiert?“, krächzte ich nach einiger Zeit und war froh, dass Kuki immer noch hinter mir stand und ich ihn nicht ansehen musste. “Nein, warte, warte. Vorher will ich wissen, wie sie heißt und wie alt sie ist?“
„Auf jeden Fall war sie nicht alt genug. Wiebke war dreizehn, als sie Dich geboren hatte. Geschwängert hat er sie, als sie zwölf war. Missbraucht, seit sie gehen konnte.“ Der alte Mann hatte jegliche Selbstsicherheit verloren.
„Woher weißt Du das alles?“
„Als Paul seinen Unfall gehabt hatte, begann ich zu recherchieren. In so einem Dorf mit seinen bummelig siebentausend Seelen bleibt nichts verborgen. Aber es wird auch nicht alles öffentlich. Alles hintenrum und durch die kalte Küche oder mal eine besoffene Bemerkung am Dorftresen. Ich habe zugehört und mir den Unfall dann noch mal ganz genau angesehen. Es war kein Unfall. Du solltest meine Story werden.“
“Kein Unfall? Hat Anne ihn umgebracht?“
„Ja.“
Mein Kopf war leer. Ein unbeschriebenes Blatt und doch vollgeschmiert mit Sudeleien, schließlich zerknüllt und in den Papierkorb befördert. Ich war noch nicht mal eine Story. Ich war gar nichts.
Aber Kuki erzählte mir mehr. Er erzählte mir seine Story, ob ich sie hören wollte oder nicht. Im Angesicht des Grabes empfand ich nur noch, dass ich keine Geschichte mehr hatte. Ich horchte nur kurz auf, als Kuki erwähnte, dass Paul übrigens ein Linkshänder gewesen ist. Und Anne nach Pauls Tod ganz rigoros meine Händigkeit umstellte, um nicht auch dadurch an Paul erinnert zu werden.
Wiebke sei mit sechzehn abgehauen, einen Tag nach ihrem Geburtstag. Er wisse nicht mehr, wie die Eltern Wiebkes Wegbleiben im Dorf erklärt hatten, aber er wisse aus seinen damaligen Recherchen noch genau, dass ihm immer alle unter vier Augen von der armen Anne und dem schlimmen Paul erzählt hatten:
„Schlimm. Ganz schlimm. Das hat die Anne nicht verdient. Nee, das hat sie nicht verdient. Der Paul, der taugte doch nichts. Aber Du steckst da ja nicht drin, nicht? Und böses Blut will hier keiner und der Paul hat ja nun bekommen, was er verdient hat, nicht?“, zitierte Kuki mit angewidertem Ton nicht nur jene Menschen, die ich aus Schule und Kirche gekannt hatte. Ja, Kuki war besser im Bilde.
„Warum hast Du diese ganze Story nicht als Reporter veröffentlicht? Wolltest Du auch kein böses Blut?“; den Sarkasmus meiner Frage überhörte er.
„In gewisser Weise, ja. Vielleicht hatte ich mich in Deine Mutter verliebt? Auf jeden Fall tatet ihr mir leid.“ Seine Stimme wurde wieder brüchig.
„Außer ihrem Namen, ihrem Alter und dem Zeitpunkt ihres Abschieds: Weißt Du noch irgendetwas über Wiebke?“
„Nein. Wenn ich Anne – so wie Du jetzt - nach Wiebke fragte, machte sie gleich zu. Ich glaube, sie war und ist eifersüchtig auf Wiebke. Das ist krank, das weiß ich, aber ich kann mir ihr Verhalten sonst nicht erklären. Nur durch einen Zufall hatte ich ein paar Fotos von Wiebke bei Euch gefunden. Ansonsten hat Anne alle vernichtet.“
„Außer dem Bild, das ich in meinem Kopf habe.“, antwortete ich nach einer Pause. „Danke, Kuki und tu mir jetzt einen Gefallen: Geh bitte.“
Nach langer Zeit stummer Zwiesprache mit meiner verbliebenen Vergangenheit – dem Grabstein und einem Bild namens Wiebke in meinem Kopf, also meinen Wurzeln, wie der Journalist es ausgedrückt hatte - stand ich mit dem Entschluss auf, mein Leben hinter mir zu lassen. Über die Schulter blickte ich zurück, sah nur noch den Mond und zeigte ihm den Mittelfinger.
VI.
Es lässt sich nicht leugnen: Ich bin ein Linkshänder. Also blieb ich dabei, meine linke Hand zu benutzen und ignorierte die rechte. Egal für welche ich mich entschieden hätte, jede Entscheidung schien fraglich. Denn die rechte Hand war Annes, die linke war Pauls. Aber ich bin Linkshänder, also habe ich Annes Umpolung revidiert.
Mittlerweile, gut und gerne fünf Jahre nach dem Friedhofsbesuch, weiß ich, dass eine Umschulung der Händigkeit wie eine Vergewaltigung ist. Es hat erhebliche Konsequenzen für die Persönlichkeit und die Identität. Aber so was scheint ja in der Tradition meiner Gene zu liegen: Vergewaltigung und Missbrauch.
Immerhin bin ich freischaffender Künstler geworden, habe mir auf dem Amt für geringes Entgelt einen Namen gekauft, unter welchem ich nicht nur meine Bilder veräußere, sondern auch den Rest meines Lebens bestreite. Der Alias, der Avatar, ist mir zur Krücke bei jedem meiner öffentlichen Schritte geworden.
Aber ich weiß, dass ich nicht dieser Phantasiename bin, dazu bin ich zu sehr der Sohn von diesem Paul. Und das ist leider nicht nur eine Frage der Linkshändigkeit. Sich wie van Gogh das Ohr abzuschneiden, wird mir wahrscheinlich nicht helfen.
Epilog:
Ich las: „Lehnen Sie sich zurück, schließen Sie die Augen und erinnern Sie sich daran, wie Sie heute morgen gefrühstückt haben. Lesen Sie nicht weiter, sondern konzentrieren Sie sich.“
Ich folgte den Anweisungen und sah mich aus der Vogelperspektive von hinten, wie ich am Tisch vor meiner Kaffeetasse saß. Und dann las ich, dass ich genau das sehen würde, aber dieses Bild nie selbst habe sehen können. Es sei eine Illusion, denn mit Sicherheit sei niemand hinter mir gewesen, der diese Aufnahme hätte machen können.
Da fragte ich mich, wer meinen Film, in dem ich der Hauptdarsteller bin, eigentlich dreht? Wer filmt meine Erinnerungen so, als seien sie von einem anderen und suggeriert mir, dass alles ich sei?
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Kritiken zur KG „Aktionspotenziale“ (Brotnic2um)
Margot:
„Aktionspotenziale“ / 5000 Wörter / erhalten 12.09.07
Stil, Bilder (Max. Punkte 10)
Flüssig zu lesen mit nachvollziehbaren Dialogen / etwas undurchsichtig, wo das Ganze spielt. Zuerst sehr amerikanisch (Mum, Shopingmall), dann wieder deutlich deutsch / Anne (der Name) wird zu abrupt eingeführt = Verwirrung (wer ist Anne? Ah, die Mum!) / Die Sequenz mit der Grossmutter (inkl. der Selbstbefriedigung) ist zwar sehr schön, hat aber keine Relevanz für die Geschichte / das Philosophieren über die umgepolte Linkshändigkeit gefällt, ist aber atypisch für eine KG, gibt der Geschichte jedoch Tiefe / die Sequenzen in der Schule lockern zwar auf, wirken aber auch etwas bemüht und auf Lacher gezielt / wechselnde Orte und Zeiten (inkl. Prolog und Epilog)sind wieder atypisch für eine KG
Punkte 8
Idee, Innovation (Max. Punkte 10)
Die Idee, dass jemand seine richtige Mutter nur als Baby gesehen, sich aber später noch an das Gesicht „erinnern“ kann gefällt / das Thema ‚linkshändig’ und die daraus resultierende Entwicklung inkl. der Probleme und Beeinflussung auf Charakter und Leben finde ich auch sehr gut
Punkte 9
Formale Gesichtspunkte (Max. Punkte 10)
Rechtschreibung und Grammatik gut mit kleinen Flüchtigkeitsfehlern (Satzzeichen und Zeitformen) / die Sprache passt zu dem gewählten Thema und den Protagonisten
Manko: kein offener Schluss. Dem Leser wird das Danach noch mitgeteilt… er muss also nichts „arbeiten“ / zu umfangreich für eine KG, eher eine Novelle
Punkte 8
Total 25 / 8,3
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Arno Boldt:
Aktionspotenziale
Eine durch und durch ansprechende, da kohärent erzählte, Geschichte mit Tiefe und tragik-komischen Momenten. Die Spannung war greifbar und ließ keinen Augenblick lange Weile aufkommen. Die ein oder andere Anmerkung habe ich aber dennoch: Warum wird irgendwann unvermittelt der Name „Anne“ eingeführt, ohne darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um die Mutter handelt? Warum nennt der Erzähler seine Mutter in einem Moment der innigen Vertrautheit „Anne“, anstatt Mum? Die Distanziertheit kann ich dort nicht nachvollziehen. Dass man den Namen einbauen musste, weil dann später der Journalist drauf zu sprechen kam, ist natürlich nachvollziehbar. Die Reaktion der Mutter, als sie das vermaledeite Bild sah, war schon heftig – und ich hoffte, dass es einen entsprechenden Grund dafür gab. Es gab ihn (gottseidank). Die Haupt-Personen wurden sehr gut charakterisiert – es entstand bei all denen plastische Bilder. Ein rundes Ding von vorn bis hinten. Insgesamt 8,7 Punkte.
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Fabian:
Aktionspotenziale:
Sprache/Stil: 8/10
Inhalt/Idee: 9/10
Satzbau und Form: 8,5/10
Bewertung: 8,5
Platz 1
Kritik:
Die längste und mit Abstand umfangreichste Geschichte. Mit ein paar Abstrichen, wie dem eigentlich unbefriedigenden Ende, gefiel sie mir sehr gut.
Sie beginnt mit einem Rätsel und baut danach ihren Handlungsstrang geschickt auf, bis sich schließlich alles aufklärt. Gelungener Plot.
Sehr gut gefiel mir das Einbringen von Überlegungen und Theorien zum Thema „Rechts/Links“. Das gibt der Geschichte zusätzliche Tiefe und Hintergrund.
Man hat hier das Gefühl, dass jemand wirklich eine Geschichte zu erzählen und sich intensiv damit beschäftigt hat.
Insgesamt ist sie gut erzählt und sprachlich und formal überzeugend, abgesehen von kleineren Fehlern, wie z.B. der Frage, warum der Junge zuerst jedem Smalltalk aus dem Weg geht und dann scheinbar abrupt zu jemandem wird, der alles und jeden Scheiß bis zum Erbrechen ausdiskutieren muss.
Folgt ein Komma, wird am Ende der Wörtlichen Rede kein Punkt gesetzt!
Die Idee hinter der Story ist gelungen und interessant. Abstriche gab es nur am Ende, das etwas abfällt und den Leser ziemlich unbefriedigt hinterlässt.
Erstens: Welche Rolle spielt Wiebke denn nun wirklich in dieser Geschichte? Im Grunde ist sie hier nur Statist, denn der Mutter ging es bei der Umpolung des Jungen nur um das Verdrängen des Vaters bzw. ihres Mannes, und auch der Junge selbst reflektiert am Ende nur die Positionen von Stiefmutter und Vater.
Es stellt sich aber die Frage, warum er nicht versucht, seine leibliche Mutter und Schwester zu finden, die ja offensichtlich als einzige Person keine Schuld an irgendwas trägt. Es wird zwar erwähnt, dass sie mit sechzehn abgehauen ist, aber aufgrund der Umstände und den Vergewaltigungen seit ihrer frühsten Kindheit ist das mehr als nachvollziehbar. Es hätte schon gereicht, wenn er sich vornähme, sie zu finden und mit ihr zu sprechen. Scheinbar verdrängt er aber lieber, dass seine Schwester auch seine Mutter ist.
Zweitens: Was ist eigentlich mit der Ausgangsüberlegung? Rechts-Gut/Links-Böse
Auch darauf wird am Ende nicht mehr wirklich eingegangen. Es wird zwar angedeutet, dass es in diesem Falle keine Rolle spielt, weil ja Mutter(Rechts) und Vater(Links) beide auf ihre Weise böse waren, aber das reicht mir in diesem Zusammenhang nicht aus. Um den Kreis wirkungsvoll zu schließen, hätte man noch einmal kurz zum Anfang zurück und damit auf die vielleicht entscheidende Aussage kommen können. „Man ist, was man ist“.
Fazit: Für mich die beste Geschichte, was Komplexität und Verschachtelung betrifft. Sehr gelungen sind Randinformationen und Überlegungen zum Rechts/Links Thema. Immer noch ausbaufähig, aber in diesem Rahmen als Gesamtpaket überzeugend.
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Platz 2: "Der schwarze Fuß meines Tisches" (GerateWohl)
Ich habe einen Tisch mit einem schwarzen Fuß, und hinter jedem schwarzen Fuß steht bekanntlich eine Geschichte. Das wusste sogar schon meine Mütter, da sie jedes Mal, wenn man als kleiner Steppke vom Spielen nach Hause kam und sich im Bad auszog, fragte, „Sag mal, wo hast du denn diese schwarzen Füße her?“, und dann erzählte man.
Aber eigentlich haben ja nur kleine Tische Füße. Große Tische haben Beine, auf denen sie im Idealfall möglichst unwackelig in unserem Leben stehen, unter den man dann sitzend seine eigenen Füße stellt, ob nun verrußt, gewaschen, in Socken, Pantoffeln, barfuss oder in einer Schüssel warmen Wassers.
Ebenso wie die meisten kleinen Kinder, erblickte mein Tisch die Welt, meine Welt, ohne einen schwarzen Fuß. Das ist jetzt 5 Jahre her. Ursprünglich war er komplett Holzfarben, Buche, natürliche Maserung, farblos lackiert lange bevor ich ihn besaß. Ein richtiger Küchentisch eben, wie ich einen seinerzeit brauchte. Ich kaufte das Möbel noch als Student bei einem Trödler in Berlin Tiergarten für damals 20 Mark, was mir als seit je unerfahrener Möbelkäufer bis heute als ein guter Preis erscheint.
In den folgenden Jahren sollte ich so einige mehr oder weniger für mich bedeutsame Erlebnisse mit diesem Tisch verbinden. Das erste war gleich, wie ich meine Meteorologieprüfung verpasste, weil ich mir ein Bein brach. Beim Transport des Tisches nach dem Kauf stolperte ich in meinem Treppenhaus im zweiten Stock und polterte mitsamt dem Tisch um die Wette die erklommenen Stufen wieder hinunter. Er blieb heil, ich brach mir ein Bein und musste ins Krankenhaus.
Dann wäre da noch das für mein Empfinden wohl verwegenste Sexabenteuer meines Lebens mit meiner Freundin Eli. Sie deutete mit so einem leichte Enttäuschung hervorkehrenden Tonfall an, dass das auch aus ihrer Sicht wohl das aufregendste Erlebnis gewesen wäre, das sie mit mir geteilt hätte. Als ich ihr daraufhin anbot, man könnte das doch gerne bei Gelegenheit wiederholen, räusperte sie sich gerade laut. Vielleicht hatte sie es deshalb nicht gehört, jedenfalls reagierte sie nicht.
Das eklatanteste Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Tisch war trotzdem sicherlich, wie Elisabeth eines Morgens nach viereinhalb Jahren Beziehung bei der Suche nach dem Herdanzünder nicht nur eine mir bis dahin verborgen gebliebene Schublade in dem Küchentisch entdeckte, sondern darin auch alte Briefe fand, die eindeutig Liebesbriefe waren. „Mein geliebter Klaus, ich sehne mich nach Dir und Deinem Körper so unendlich…bla, bla, bla“.
Datiert waren sie zwar offensichtlich auf einen Zeitraum lange vor unserer Epoche, aber dafür wirkten sie zugegebenermaßen sehr frisch, und zudem bezogen sie sich inhaltlich eindeutig nicht auf eine Beziehung, sondern eine Affäre. Eli wertete diese Briefe augenblicklich als Beweis meiner Untreue und verließ mich wenige Tage später mit fast unserer gesamten gemeinsam angeschafften Habe, außer ihrem heißgeliebten geerbten Perserteppich von ihrem Opa und besagtem ollen Küchentisch, den sie als Mahnmal meiner Schuld voller Verachtung stehen ließ. Wohlgemerkt, ich heiße Alexander und nicht Klaus. Ich war zu verwirrt, um darüber mit ihr zu streiten.
Ihre Entschlossenheit in der Sache konnte ich mir kaum erklären, bis ich zu der Überzeugung gelangt war, dass sie nur einen Vorwand gesucht hatte. Als ich das für mich erstmal so klar hatte, war ich sicher, dass ich bald unsere gemeinsame CD-Sammlung mehr vermissen würde als sie. Sie hatte, wie ich von ihrer besten Freundin Rike im Telefonat erfuhr, schon vor einiger Zeit mit einem Berater in ihrer Agentur angebandelt, was Rike offensichtlich missbilligte. Zitat: „Ja, sie hat sich nicht unbedingt zum Positivsten entwickelt seit sie in dieser PR-Agentur arbeitet.“
Das bestätigte mir auch mein Freund Matze, der seit jeher ein Talent hatte, die Fährnisse des Lebens weniger kompliziert und dramatisch aussehen zu lassen, indem er sie in seinen Worten nachmodellierte.
Wir saßen gemeinsam in meiner Küche an dem Tisch auf umgedrehten Bierkästen und tranken Rex Pils und rauchten NIL. Ich hatte im Schock die Wohnung seit einer Woche nicht verlassen, was nur ging, weil Eli und ich zu dieser Zeit eigentlich unseren gemeinsamen Urlaub geplant hatten. Nun fuhr sie wahrscheinlich mit ihrem Consulter an der Algarve umher, ließ sich mit ihm den schönen Strandsand ins Gesicht und die Haare wehen, und ich saß in unserer leeren Bude mit meinem besten Freund. Die Küche sah aus, wie die untere Hälfte einer rotbraunen Tropfsteinhöhle. Überall standen volle und leere Flaschen auf terrakottafarbenen Fliesen. Wir hatten ja die Getränkekästen unter uns leer geräumt um auf ihnen sitzen zu können und alles wahllos in die Gegend gestellt. In einigen Flaschen steckten brennende Kerzen. Wir waren schon ziemlich knülle und ich kam gerade so richtig ins Lamentieren und stellte mir sinnlose Übersprungsfragen.
„Sie hat echt fast alles mitgenommen. Warum nicht auch ihren blöden Krohnleuchter?“
„Ey, Alex, die hat sogar die Glühbirnen rausgeschraubt. Sei froh, dass du se los bist.“
Matze war den ganzen Abend schon wie immer erfrischend und mittlerweile lallend direkt.
„Na, ganz so stimmt das ja nicht. Sie hat eben nur die Lampen mitgenommen. Da steckten die Glühbirnen halt mit drin.“
„Mensch Alex, dir is echt nich zu helfen. Du verteidichst die echt noch nach der Akssion.“
„Gar nicht. Ich will nur bei der Wahrheit bleiben.“
„Wahrheit, Wahrheit. Wass’n dis?“ Matze wischte meine Wahrheit aus der Luft mit der Hand weg, irgendwo auf eine Fläche an der Wand hinter ihm.
„Wie meinst’n das?“ fragte ich ihn beleidigt.
„Scheiß auf die Wahrheit. Ich sag dir jetz mal was. Mit deinem Verständnis von Wahrheit kommste bei den Fraun nich weit. Glaubste wirklich, dass Casanova so erfolgreich bei den Frauen gewesen is, weila so verständnisvoll war?“
Matze kam jetzt in Fahrt und starrte mir unumwunden in die Augen. Ich blinzelte und antwortete.
„Nein, wahrscheinlich nicht. Weiß nicht. Aber…ach Quatsch. Du siehst das zu einfach. Es gibt auch andere Frauen.“
„Wo?“
Er starrte weiter, ich blinzelte weiter.
„Überall. Ich kenne viele. Die Rike zum Beispiel. Die kennst du doch auch. Die…“
„Hör mal.“ Sein Egopanzer überfuhr meinen Einwand und begann sich darüber malmend zu drehen.
„Frauen, die auf verständnisvolle Männer stehen, sind entweder zig Mal auf die Schnauze gefallen oder stinklangweilig und trauen sich nichts. Und ich bleib dabei. Frauen, die keine Angst vor dem Leben und den Männern haben, fahren auf die rücksichtslosesten Egoisten ab.“
„Aber die Rike…“ Rums! Da, wieder der Panzer.
„Die Rike wollte einfach nur Familie und Kinder. Da kam der harmlose, fügsame Wolle gerade recht. Beide haben bekommen, was sie wollten. Das ist ein Deal. Mehr nicht.“
Eine bäumende aber kraftlose Hand unter dem Kettenfahrzeug hervor. „Sie scheinen mir aber recht glücklich zu sein.“
„Klar. Jeder, der bekommt, wasser will, is glücklich. Aber wo bleibt da der Traum, die Fantasie, die Herausforderung? Irgendwann knallt’s da gehörig im Karton. Das sag ich dir jetzt schon.“
Matze warf sich triumphal in den Rücken und fiel fast von seinen Bierkästen, als er merkte, dass da keine Lehne war, die ihn auffing. Er trat von unten gegen den Tisch, fing sich mit der Hand am Fensterrahmen und ihm fiel sein Bier herunter. Die Flasche zerschepperte. Es kümmerte ihn nicht, er machte sich ein neues auf, als wenn nichts gewesen wäre und nahm einen tiefen Schluck. Wenn er da war, störte mich so was auch nie. In seiner Gegenwart war so was völlig normal.
Ich konnte und wollte nichts mehr zu seinem billigen Macho-Vortrag sagen. Ich war jetzt schlecht gelaunt und schmollte etwas.
Matze grinste mich an und sagte: „Komm, Alex. Genug Theorie. Du brauchst Praxis, ich auch. Suchen wir die Wahrheit da draußen. Machen wir was los und gehen aus.“
Grummelgrummel. „Wohin denn?“
„Egal.“
Peng. Ich platzte. „Dir ist immer alles egal. Und? Was bringt dir das? Bist du glücklich? Was ist dein Traum? Deine Herausforderung? Dein Ziel?“
Die Eiche zum Kläffer: „Jetzt mit dir einen drauf zu machen. Los, komm?“
Grummelgrummel. Er hatte ja Recht. Genug gelabert. Wir standen auf und torkelten scheppernd durch den Flaschenparkour, zogen uns zerzaust und besoffen wie wir waren im Türzumachen und Hinuntergehen unsere Jacken an und marschierten los Richtung S-Bahn.
Es war Dezember und draußen auf den Berliner Straßen lag vereister Schnee. Auf dem halben Weg zur S-Bahn fiel mir auf, dass ich noch meine Hausschuhe anhatte und wollte umdrehen.
„Ach Quatsch, Alex. Wen interessiert das. Mach dich doch endlich mal locker.“
„Du hast gut reden, Matze. Du bist ja halbwegs für’s Ausgehen angezogen. Ich bin ungekämmt, trage noch mein T-Shirt von gestern und hab Hausschuhe an.“
„O.K. Dann fällt der Schönheitswettbewerb als Programmpunkt wohl flach. Dann machen wir halt was anderes. Hihi.“ Da war es, sein mir so verhasstes „Die-eigenen-Sprüche-sind-immer-noch-die-besten“-Gekicher.
Ich stand irgendwie im Zuge der ganzen Ereignisse derartig neben mir, dass ich ihm wahrscheinlich in dem Moment auch widerstandslos gefolgt wäre, wenn er gesagt hätte, wir rauben jetzt eine Bank aus und entführen dann mit einem Nagelkneifer einen Lastminute-Malle-Flug nach Rio de Janeiro. Ich war mir auch nicht recht sicher, ob er nicht genau das vorhatte.
Für einen Moment fühlte ich mich wie Arthur Dent, der von Ford Perfect vor dem Untergang der Welt und in einen Strudel skurrilster Abenteuer entführt wird. Dieses erhebende Gefühl verflog schnell, als wir schließlich am S-Bahnhof Feuerbachstraße unmittelbar unseren Zug verpassten.
Matzes Laune konnte das nicht trüben. „Dann warten wir halt. Is doch easy.“
„Was ist denn daran easy? In einer halben Stunde kommt erst der nächste Zug in die City.“
„Wir haben Zeit. Oder hast du noch was anderes vor?“
„Naja, ich muss vielleicht bald dringend für kleine Astronauten“, überhörte Matze.
Wir setzten uns auf eine Bahnsteigbank, steckten uns beide eine Zigarette an und rauchten, wie um vor der zunehmend spürbaren Kälte besonders cool zu erscheinen. Bald fühlte ich mich wie eine im Winterteich eingefrorene Kaulquappe.
Zwei etwa 18-jährige Mädchen, für diese fröstelige Jahreszeit in ihren kurzen Röcken ohne Strumpfhosen beeindruckend spärlich bekleidet kamen vorbei und fragten uns nach Zigaretten.
Matze ergriff wie eh und je jede Gelegenheit für eine neckische Konversation auf altersgerechtem Niveau - nur nicht seinem Alter gerecht. „Wir können tauschen. Habt ihr Bier?“
„Hihi, nö haben wir nicht. Aber das wäre echt total nett, wenn wir eine bei euch schnorren könnten.“
Diese Schleimtour von den Mädchen und die Dummdöselei von Matze gingen mir sofort auf den Keks.
„Mädchen, geht lieber ins Bett. Ihr sein noch zu klein und Rauchen ist hier sowieso verboten“, maulte ich und mein Beitrag wirkte mit der qualmenden Zigarette zwischen meinen Fingern und meinen Pantoffeln an den ausgestreckten Füßen gewiss nicht intelligenter als die der anderen Drei. Offensichtlich ignorierten mich auch alle, denn sie plauderten meiner ungeachtet weiter, was mir sehr recht war.
„Wenn wir Bier hätten, würden wir es euch bestimmt geben. Aber…“
„Ja, is o.k. Überredet. Ihr kriegt ja eure Glimmstengel. Hey Alex, hast du noch welche?“
Ich schreckte von Matzes Ellenbogenstupser auf. Ich war mittlerweile in mich versunken dazu übergegangen, gegen meine Blase anzukämpfen. „Wie? Was?“
„Hast du noch Zigaretten?“ Ich blickte mich um. Nun sahen alle drei mich erwartungsvoll an.
„Nein verdammt. Und ich gehe jetzt nach Hause. Ich muss nämlich ziemlich dringend pissen.“
Die Mädchen sahen mich leicht undankbar an trotz meines väterlichen Ratschlags und obendrein ungläubig, als könnten sie es nicht fassen, dass ich wirklich ein Zuhause besitze. Matze hielt mich zurück.
„Alex, der Abend geht doch gerade erst los. Wenn du pissen musst geh doch irgendwie … ins äh Gebüsch.“
„Hier gibt’s kein Gebüsch und meine Wohnung ist fünf Minuten entfernt.“
„Dann eben hinter den Fahrscheinautomaten. Ich komme mit. Ich muss auch.“
Das war offensichtlich das Stichwort für die Mädchen zu beschließen, dass sie jetzt mal weiter müssten und bewegten sich auf einen entfernten Ort am anderen Ende des Bahnsteigs zu.
Ich stand auf und ging die Bahnhofstreppe hoch.
„Hey, Alex, du machst dir echt ins Hemd wegen deiner Toilette… Hey, in vier Minuten kommt die nächste Bahn.“
„Mir ist die Lust vergangen.“
Vor allem Schwand meine Körperbeherrschung im Leistenbereich.
Auf dem Weg nach Hause plapperte Matze mir die genervten Ohren voll damit, wie enttäuschend er das doch jetzt fände, dass ich es nicht fertig brächte mal ein bisschen locker zu sein, so wie früher, bevor meine Ex mich so domestiziert hätte.
Ich schloss die Tür auf mit dem einzigen Gedanken endlich aufs Klo zu gehen und dem zweit dringensten Vorsatz mir gleich darauf Matze vorzuknüpfen. Das war nun endlich mal fällig.
Ich schloss die Tür auf, raste an Eli vorbei, die mit ihrem Krohnleuchter in der Hand im Flur stand und stürmte bei offener Klotür ins Bad, riss mir die Hose herunter und erleichterte mich. Matze und Elisabeth standen wie angewurzelt im Flur und sahen sich gegenseitig verdutzt an und dann zu mir hinüber. Keiner sagte ein Wort. Es gurgelte nur, die zwei Badkerzen brannten. Eine Art Idylle.
Ich spülte und stand entspannt auf. Mir fiel auf, dass Klopapier alle war. Ich zog die Hose hoch und wusch mir die Hände, drehte mich zu Eli um und schrie: „Was um alles in der Welt machst du hier?“ Mir fiel auf, dass sie irgendwie lädiert aussah.
„Ich war nur hier um meinen Krohnleuchter zu holen und du machst hier einen auf Penner. Ich bin in der dunklen Küche auf einer Bierlache ausgerutscht und landete in einem Haufen Glasscherben.“
Sie hielt ein rotfleckiges Knäuel Klopapier hoch in dem irgendwie ihre möglicherweise noch blutende Hand steckte.
Ich bekam Oberwasser. „Du Schnepfe hast ja auch alle Glühbirnen rausgeschraubt.“
„Ich habe nur meine Lampen mitgenommen. Da waren die Glühbirnen halt mit drin. Und außerdem ist das anderthalb Wochen her, du Blödian!“
Matze, der die ganze Zeit von einem Bein aufs andere gewippt war, schien sich nun richtung Tür schleichend verdrücken zu wollen. Ich erwischte ihn mit meinem Hirtenstab.
„Und mit dir bin ich auch noch nicht fertig, Freundchen! Glaubt ihr denn ich bin blöd? Klar. Du lockst mich raus, damit Eli hier in Ruhe meinen Kronleuchter wegholen kann!“
„Sag mal, hast du ne Meise?“ Das fragte der Richtige. „Ich hab keinen Schimmer was hier vor sich geht! Ich dachte, wir machen was los, aber… Ach, ich hau jetzt ab und pisse in deinen Briefkasten, du Idiot!“
Weg war er.
Das klang sehr überzeugend. Ich hielt ihn postwendend zumindest dieser Verschwörung für unschuldig.
„Ey, du bist echt krank.“ Jetzt kam sie wieder von schräg oben. „Unter einer Decke mit deinem Klugscheißerfreund.“
Jetzt war ich restlos von seiner Unschuld überzeugt.
„Ich lass den Kronleuchter jetzt hier und hole ihn demnächst ab, tagsüber. Ich gehe jetzt ins Krankenhaus und lass mir eine Tetanusspritze und einen vernünftigen Verband verpassen.“
Lass dir doch gleich ’n Herz verpassen, dachte ich.
Sie wandte sich zum Gehen. Es gab nichts mehr zu sagen außer einem noch.
„Ich dachte, du bist an der Algarve mit deinem Consulter.“
Sie blieb stehen und seufzte. Im Hausflur hörte man kurz nur Matze im Parterre beim Wasserlassen.
„Komm, lass mich in Ruhe mit deinen Hirngespinsten. Da is nix mit dem! Wer hat dir das erzählt? Das ist nur ein blöder Idiot. O.K.? Nichts weiter.“
Er hatte sie verlassen, oder sie ihn. Egal. Alles war in Ordnung.
Matze ließ die Haustür zufallen.
Ich schwieg. Sie ging. Ich schloss die Tür.
Ich ging in die Küche, zündete alle rum stehenden und noch nicht abgebrannten Kerzen an und begann aufzuräumen. Alle Flaschen in die Kästen, die Scherben weg, die Bier- und Blutlachen aufwischen. Es musste sie wirklich böse erwischt haben. Ich konnte die Schadenfreude nicht ganz vermeiden.
Irgendwann war die Küche wieder passabel.
Da sah ich, dass das eine Tischbein blutverschmiert war. Da muss man was machen, dachte ich, und ich wusste auch gleich was. Ich sprühte irgendwie trotz der Übernächtigung und all dem Ärger vor Energie. Dieses Gefühl hätte mir kein Partyabend mit Matze in irgendwelchen Nachtclubs bescheren können.
Ich hatte auf dem Zwischenboden im Flur noch schwarzen Bootslack stehen. Ich nahm, um den Aufräum-, Sauf- und Streitschweiß abzuwaschen erst einmal ein Duschbad. Danach holte ich den Lack, samt Werkzeugkasten vom Boden herunter, ging in die Küche, schmirgelte das Tischbein ab und begann, es sorgfältig zu streichen. Der Morgen graute, das Tischbein war schwarz und ich konnte die Augen nicht mehr offen halten. Den Pinsel legte ich noch in Terpentin ein, ging zu meiner Matratze schlafen, schlafen, lange schlafen.
Sieben Stunden später, halbwegs erfrischt, stand ich auf und ging in die Küche. Ich sah, dass der Tisch mit der schwarzen Farbe total blöd aussah. Also beschloss ich, ihn nicht weiter zu bearbeiten.
Innerlich spürte ich plötzlich den Impuls, meine Mutter anzurufen. Wer weiß warum.
Ich ließ den Tisch Tisch sein, setzte mich mit einem Notizblock auf den Küchenboden und machte mir einen Plan für den kurzen Rest meines Urlaubs. Ich hatte noch zwei Tage, mehr als genug. Erstmal den Briefkasten reinigen. Schloss austauschen. Kronleuchter wieder aufhängen, Wohnung einrichten… Ich hielt inne, sah zu dem Tisch. Der bleibt so, beschloss ich endgültig und dachte, aber erzählen, wie es dazu kam, kann man eigentlich niemandem.
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Kritiken zur KG „Der schwarze Fuß meines Tisches“ (GerateWohl)
Margot:
„Der schwarze Fuss meines Tisches“ / 2770 Wörter / erhalten 09.07
Stil, Bilder (Max. Punkte 10)
Der flapsige, schnoddrige Sprachstil passt gut zum Besäufnis der beiden Protagonisten / die Dialoge sind aber oftmals etwas wirr, entbehren aber nicht einer gewissen Situationskomik / gute Schlagabtausche zwischen den beiden Männern / Örtlichkeiten, Charaktere und Handlung werden plastisch geschildert /aufpassen bei Vergleichen (Arthur Dent, Ford Perfect etc.), nicht alle Leser kennen diese und verstehen daher den Witz nicht .. dies kann auch störend wirken
Punkte 8
Idee, Innovation (Max. Punkte 10)
Origineller Einstieg, macht Lust auf mehr / witzige Sequenz mit den Liebesbriefen / etwas verwirrend sind die beiden Namen Eli/Elisabeth (ich hielt die zuerst für zwei verschiedene Frauen)
Punkte 8.5
Formale Gesichtspunkte (Max. Punkte 10)
Kleinere Flüchtigkeitsfehler / mehr mit Absätzen arbeiten bei neuen Situation, Gedankengängen und Szenen) / die Sprache passt zu dem gewählten Thema und den Protagonisten / hätte den Schluss etwas offener gestaltet, die KG wirkt dadurch aber auch abgerundet / könnte noch etwas gekürzt werden (zum Teil etwas viel unnötiges Blabla)
Punkte 8
Total 24.5 /8,1
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Arno Boldt:
Der schwarze Fuß meines Tisches
Der Aufhänger und eigentliche Rahmen zur Geschichte ist der schwarze Fuß des Tisches. Die Charakterisierung der Personen gefällt mir sehr gut. Und die sprachliche Umsetzung gelingt am besten bei den Dialogen, obwohl ich mir gewünscht hätte, dass Matze an seiner alkoholisierten Sprache festhält und ab und an etwas öfter lallt. Zumindest wäre es plausibel gewesen, nicht so schnell wieder nüchtern zu sein. Der Anfang, obgleich zwar nicht unwitzig (besonders der Vergleich zwischen schwarzen Kinder- und Tischfüßen), war nicht ganz so spritzig, wie im folgenden Verlauf. Auch waren ein paar Rechtschreibfehler vorhanden. Da hätte ich mir etwas mehr Aufmerksamkeit gewünscht. Aber dem Text an sich haben sie kaum geschadet. Schön auch, dass die menschliche Suche nach Bestätigung durchkam: hier z.B., als der Erzähler sich Meinungen zurechtlegte, weshalb er verlassen wurde – während er gleichzeitig sagte, dass es ihm egal sei. Rund um also fast gelungen. Nur noch eines: warum der Erzähler platzte, als Matze meinte, ihm sei egal, wohin sie gingen – das war nicht plausibel genug geschildert. Es wirkte auf mich etwas überzogen. Insgesamt aber, nicht zuletzt wegen der gut-funktionierenden Dialoge, wohlverdiente 7,3 Punkte.
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Fabian:
Der schwarze Fuß meines Tisches
Sprache/Stil: 7,5
Inhalt/Idee: 8,5
Satzbau und Form: 7,5
Bewertung: 7,8
Platz 3
Auch hier ein guter Ansatz, eine nette Idee. Schwarze Beine/Füße haben eine Geschichte zu erzählen. Sowohl menschliche als auch Tischbeine. Beides wird anhand von Erlebnissen auch näher ausgeführt, was mir gut gefallen hat. Das einschneidende Sexerlebnis und das gebrochene Bein sind nachvollziehbar.
Insgesamt durchaus rund, aber schon zu Beginn etwas umständlich formuliert und mit kleineren sprachlichen Fehlern:
„Aber eigentlich haben ja nur kleine Tische Füße. Große Tische haben Beine, auf denen sie im Idealfall möglichst unwackelig in unserem Leben stehen, unter den man dann sitzend seine eigenen Füße stellt, ob nun verrußt, gewaschen, in Socken, Pantoffeln, barfuss oder in einer Schüssel warmen Wassers.“
Das „unter den“ passt hier nicht rein, wird ja vorher nicht vom „dem Tisch“ gesprochen sondern von Tischen und in erster Linie von Beinen und Füßen.
Worte, wie „blablabla“ und „Grummelgrummel“ wirken deplaziert.
„DringenDsten“ wird mit zweitem „d“ geschrieben.
Die Geschichte ist nett und menschlich nachvollziehbar dargestellt. Der verlassene Typ ist niedergeschlagen und besäuft sich mit seinem besten Kumpel, um seinen Frust abzulassen. Am Ende beschließt er, die Tischbeine schwarz anzumalen, um dieses Kapitel abzuschließen.
Allerdings gibt es ein paar Dinge, die nicht so ganz in den Zusammenhang passen.
Er merkt früh, dass er die CD-Sammlung mehr vermissen wird, als die Ex. Warum ist er dann so fertig? Weil es ihn natürlich trotzdem trifft, verständlich. Aber die Tatsache, dass er sie scheinbar auch nicht wirklich geliebt hat, schmälert den Effekt. Zumal er auch darüber jammert, dass es doch irgendwo noch nette Frauen geben muss, die ihn nicht so behandeln.
Wenn er sich den Tisch schon gekauft hat, als er noch Single war, wieso sollte seine Ex ihn dann als Mahnmal da lassen? Sie hätte doch sowieso keinen Anspruch darauf.
Der Grund für die Trennung wirkt eher ungelenk und ziemlich unglaubwürdig.
Die Stelle mit den Glühbirnen wirkt komisch. Warum schraubt sie die Glühbirnen aus dem Kronleuchter, wenn sie ihn auch mitnehmen will?
Fazit: Eine Geschichte aus dem Leben. Unterhaltsam und mit schönem Grundgedanken, den Geschichten hinter schwarzen Füßen. Ausbaufähig in der Ausführung und in den Details.
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Ich habe einen Tisch mit einem schwarzen Fuß, und hinter jedem schwarzen Fuß steht bekanntlich eine Geschichte. Das wusste sogar schon meine Mütter, da sie jedes Mal, wenn man als kleiner Steppke vom Spielen nach Hause kam und sich im Bad auszog, fragte, „Sag mal, wo hast du denn diese schwarzen Füße her?“, und dann erzählte man.
Aber eigentlich haben ja nur kleine Tische Füße. Große Tische haben Beine, auf denen sie im Idealfall möglichst unwackelig in unserem Leben stehen, unter den man dann sitzend seine eigenen Füße stellt, ob nun verrußt, gewaschen, in Socken, Pantoffeln, barfuss oder in einer Schüssel warmen Wassers.
Ebenso wie die meisten kleinen Kinder, erblickte mein Tisch die Welt, meine Welt, ohne einen schwarzen Fuß. Das ist jetzt 5 Jahre her. Ursprünglich war er komplett Holzfarben, Buche, natürliche Maserung, farblos lackiert lange bevor ich ihn besaß. Ein richtiger Küchentisch eben, wie ich einen seinerzeit brauchte. Ich kaufte das Möbel noch als Student bei einem Trödler in Berlin Tiergarten für damals 20 Mark, was mir als seit je unerfahrener Möbelkäufer bis heute als ein guter Preis erscheint.
In den folgenden Jahren sollte ich so einige mehr oder weniger für mich bedeutsame Erlebnisse mit diesem Tisch verbinden. Das erste war gleich, wie ich meine Meteorologieprüfung verpasste, weil ich mir ein Bein brach. Beim Transport des Tisches nach dem Kauf stolperte ich in meinem Treppenhaus im zweiten Stock und polterte mitsamt dem Tisch um die Wette die erklommenen Stufen wieder hinunter. Er blieb heil, ich brach mir ein Bein und musste ins Krankenhaus.
Dann wäre da noch das für mein Empfinden wohl verwegenste Sexabenteuer meines Lebens mit meiner Freundin Eli. Sie deutete mit so einem leichte Enttäuschung hervorkehrenden Tonfall an, dass das auch aus ihrer Sicht wohl das aufregendste Erlebnis gewesen wäre, das sie mit mir geteilt hätte. Als ich ihr daraufhin anbot, man könnte das doch gerne bei Gelegenheit wiederholen, räusperte sie sich gerade laut. Vielleicht hatte sie es deshalb nicht gehört, jedenfalls reagierte sie nicht.
Das eklatanteste Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Tisch war trotzdem sicherlich, wie Elisabeth eines Morgens nach viereinhalb Jahren Beziehung bei der Suche nach dem Herdanzünder nicht nur eine mir bis dahin verborgen gebliebene Schublade in dem Küchentisch entdeckte, sondern darin auch alte Briefe fand, die eindeutig Liebesbriefe waren. „Mein geliebter Klaus, ich sehne mich nach Dir und Deinem Körper so unendlich…bla, bla, bla“.
Datiert waren sie zwar offensichtlich auf einen Zeitraum lange vor unserer Epoche, aber dafür wirkten sie zugegebenermaßen sehr frisch, und zudem bezogen sie sich inhaltlich eindeutig nicht auf eine Beziehung, sondern eine Affäre. Eli wertete diese Briefe augenblicklich als Beweis meiner Untreue und verließ mich wenige Tage später mit fast unserer gesamten gemeinsam angeschafften Habe, außer ihrem heißgeliebten geerbten Perserteppich von ihrem Opa und besagtem ollen Küchentisch, den sie als Mahnmal meiner Schuld voller Verachtung stehen ließ. Wohlgemerkt, ich heiße Alexander und nicht Klaus. Ich war zu verwirrt, um darüber mit ihr zu streiten.
Ihre Entschlossenheit in der Sache konnte ich mir kaum erklären, bis ich zu der Überzeugung gelangt war, dass sie nur einen Vorwand gesucht hatte. Als ich das für mich erstmal so klar hatte, war ich sicher, dass ich bald unsere gemeinsame CD-Sammlung mehr vermissen würde als sie. Sie hatte, wie ich von ihrer besten Freundin Rike im Telefonat erfuhr, schon vor einiger Zeit mit einem Berater in ihrer Agentur angebandelt, was Rike offensichtlich missbilligte. Zitat: „Ja, sie hat sich nicht unbedingt zum Positivsten entwickelt seit sie in dieser PR-Agentur arbeitet.“
Das bestätigte mir auch mein Freund Matze, der seit jeher ein Talent hatte, die Fährnisse des Lebens weniger kompliziert und dramatisch aussehen zu lassen, indem er sie in seinen Worten nachmodellierte.
Wir saßen gemeinsam in meiner Küche an dem Tisch auf umgedrehten Bierkästen und tranken Rex Pils und rauchten NIL. Ich hatte im Schock die Wohnung seit einer Woche nicht verlassen, was nur ging, weil Eli und ich zu dieser Zeit eigentlich unseren gemeinsamen Urlaub geplant hatten. Nun fuhr sie wahrscheinlich mit ihrem Consulter an der Algarve umher, ließ sich mit ihm den schönen Strandsand ins Gesicht und die Haare wehen, und ich saß in unserer leeren Bude mit meinem besten Freund. Die Küche sah aus, wie die untere Hälfte einer rotbraunen Tropfsteinhöhle. Überall standen volle und leere Flaschen auf terrakottafarbenen Fliesen. Wir hatten ja die Getränkekästen unter uns leer geräumt um auf ihnen sitzen zu können und alles wahllos in die Gegend gestellt. In einigen Flaschen steckten brennende Kerzen. Wir waren schon ziemlich knülle und ich kam gerade so richtig ins Lamentieren und stellte mir sinnlose Übersprungsfragen.
„Sie hat echt fast alles mitgenommen. Warum nicht auch ihren blöden Krohnleuchter?“
„Ey, Alex, die hat sogar die Glühbirnen rausgeschraubt. Sei froh, dass du se los bist.“
Matze war den ganzen Abend schon wie immer erfrischend und mittlerweile lallend direkt.
„Na, ganz so stimmt das ja nicht. Sie hat eben nur die Lampen mitgenommen. Da steckten die Glühbirnen halt mit drin.“
„Mensch Alex, dir is echt nich zu helfen. Du verteidichst die echt noch nach der Akssion.“
„Gar nicht. Ich will nur bei der Wahrheit bleiben.“
„Wahrheit, Wahrheit. Wass’n dis?“ Matze wischte meine Wahrheit aus der Luft mit der Hand weg, irgendwo auf eine Fläche an der Wand hinter ihm.
„Wie meinst’n das?“ fragte ich ihn beleidigt.
„Scheiß auf die Wahrheit. Ich sag dir jetz mal was. Mit deinem Verständnis von Wahrheit kommste bei den Fraun nich weit. Glaubste wirklich, dass Casanova so erfolgreich bei den Frauen gewesen is, weila so verständnisvoll war?“
Matze kam jetzt in Fahrt und starrte mir unumwunden in die Augen. Ich blinzelte und antwortete.
„Nein, wahrscheinlich nicht. Weiß nicht. Aber…ach Quatsch. Du siehst das zu einfach. Es gibt auch andere Frauen.“
„Wo?“
Er starrte weiter, ich blinzelte weiter.
„Überall. Ich kenne viele. Die Rike zum Beispiel. Die kennst du doch auch. Die…“
„Hör mal.“ Sein Egopanzer überfuhr meinen Einwand und begann sich darüber malmend zu drehen.
„Frauen, die auf verständnisvolle Männer stehen, sind entweder zig Mal auf die Schnauze gefallen oder stinklangweilig und trauen sich nichts. Und ich bleib dabei. Frauen, die keine Angst vor dem Leben und den Männern haben, fahren auf die rücksichtslosesten Egoisten ab.“
„Aber die Rike…“ Rums! Da, wieder der Panzer.
„Die Rike wollte einfach nur Familie und Kinder. Da kam der harmlose, fügsame Wolle gerade recht. Beide haben bekommen, was sie wollten. Das ist ein Deal. Mehr nicht.“
Eine bäumende aber kraftlose Hand unter dem Kettenfahrzeug hervor. „Sie scheinen mir aber recht glücklich zu sein.“
„Klar. Jeder, der bekommt, wasser will, is glücklich. Aber wo bleibt da der Traum, die Fantasie, die Herausforderung? Irgendwann knallt’s da gehörig im Karton. Das sag ich dir jetzt schon.“
Matze warf sich triumphal in den Rücken und fiel fast von seinen Bierkästen, als er merkte, dass da keine Lehne war, die ihn auffing. Er trat von unten gegen den Tisch, fing sich mit der Hand am Fensterrahmen und ihm fiel sein Bier herunter. Die Flasche zerschepperte. Es kümmerte ihn nicht, er machte sich ein neues auf, als wenn nichts gewesen wäre und nahm einen tiefen Schluck. Wenn er da war, störte mich so was auch nie. In seiner Gegenwart war so was völlig normal.
Ich konnte und wollte nichts mehr zu seinem billigen Macho-Vortrag sagen. Ich war jetzt schlecht gelaunt und schmollte etwas.
Matze grinste mich an und sagte: „Komm, Alex. Genug Theorie. Du brauchst Praxis, ich auch. Suchen wir die Wahrheit da draußen. Machen wir was los und gehen aus.“
Grummelgrummel. „Wohin denn?“
„Egal.“
Peng. Ich platzte. „Dir ist immer alles egal. Und? Was bringt dir das? Bist du glücklich? Was ist dein Traum? Deine Herausforderung? Dein Ziel?“
Die Eiche zum Kläffer: „Jetzt mit dir einen drauf zu machen. Los, komm?“
Grummelgrummel. Er hatte ja Recht. Genug gelabert. Wir standen auf und torkelten scheppernd durch den Flaschenparkour, zogen uns zerzaust und besoffen wie wir waren im Türzumachen und Hinuntergehen unsere Jacken an und marschierten los Richtung S-Bahn.
Es war Dezember und draußen auf den Berliner Straßen lag vereister Schnee. Auf dem halben Weg zur S-Bahn fiel mir auf, dass ich noch meine Hausschuhe anhatte und wollte umdrehen.
„Ach Quatsch, Alex. Wen interessiert das. Mach dich doch endlich mal locker.“
„Du hast gut reden, Matze. Du bist ja halbwegs für’s Ausgehen angezogen. Ich bin ungekämmt, trage noch mein T-Shirt von gestern und hab Hausschuhe an.“
„O.K. Dann fällt der Schönheitswettbewerb als Programmpunkt wohl flach. Dann machen wir halt was anderes. Hihi.“ Da war es, sein mir so verhasstes „Die-eigenen-Sprüche-sind-immer-noch-die-besten“-Gekicher.
Ich stand irgendwie im Zuge der ganzen Ereignisse derartig neben mir, dass ich ihm wahrscheinlich in dem Moment auch widerstandslos gefolgt wäre, wenn er gesagt hätte, wir rauben jetzt eine Bank aus und entführen dann mit einem Nagelkneifer einen Lastminute-Malle-Flug nach Rio de Janeiro. Ich war mir auch nicht recht sicher, ob er nicht genau das vorhatte.
Für einen Moment fühlte ich mich wie Arthur Dent, der von Ford Perfect vor dem Untergang der Welt und in einen Strudel skurrilster Abenteuer entführt wird. Dieses erhebende Gefühl verflog schnell, als wir schließlich am S-Bahnhof Feuerbachstraße unmittelbar unseren Zug verpassten.
Matzes Laune konnte das nicht trüben. „Dann warten wir halt. Is doch easy.“
„Was ist denn daran easy? In einer halben Stunde kommt erst der nächste Zug in die City.“
„Wir haben Zeit. Oder hast du noch was anderes vor?“
„Naja, ich muss vielleicht bald dringend für kleine Astronauten“, überhörte Matze.
Wir setzten uns auf eine Bahnsteigbank, steckten uns beide eine Zigarette an und rauchten, wie um vor der zunehmend spürbaren Kälte besonders cool zu erscheinen. Bald fühlte ich mich wie eine im Winterteich eingefrorene Kaulquappe.
Zwei etwa 18-jährige Mädchen, für diese fröstelige Jahreszeit in ihren kurzen Röcken ohne Strumpfhosen beeindruckend spärlich bekleidet kamen vorbei und fragten uns nach Zigaretten.
Matze ergriff wie eh und je jede Gelegenheit für eine neckische Konversation auf altersgerechtem Niveau - nur nicht seinem Alter gerecht. „Wir können tauschen. Habt ihr Bier?“
„Hihi, nö haben wir nicht. Aber das wäre echt total nett, wenn wir eine bei euch schnorren könnten.“
Diese Schleimtour von den Mädchen und die Dummdöselei von Matze gingen mir sofort auf den Keks.
„Mädchen, geht lieber ins Bett. Ihr sein noch zu klein und Rauchen ist hier sowieso verboten“, maulte ich und mein Beitrag wirkte mit der qualmenden Zigarette zwischen meinen Fingern und meinen Pantoffeln an den ausgestreckten Füßen gewiss nicht intelligenter als die der anderen Drei. Offensichtlich ignorierten mich auch alle, denn sie plauderten meiner ungeachtet weiter, was mir sehr recht war.
„Wenn wir Bier hätten, würden wir es euch bestimmt geben. Aber…“
„Ja, is o.k. Überredet. Ihr kriegt ja eure Glimmstengel. Hey Alex, hast du noch welche?“
Ich schreckte von Matzes Ellenbogenstupser auf. Ich war mittlerweile in mich versunken dazu übergegangen, gegen meine Blase anzukämpfen. „Wie? Was?“
„Hast du noch Zigaretten?“ Ich blickte mich um. Nun sahen alle drei mich erwartungsvoll an.
„Nein verdammt. Und ich gehe jetzt nach Hause. Ich muss nämlich ziemlich dringend pissen.“
Die Mädchen sahen mich leicht undankbar an trotz meines väterlichen Ratschlags und obendrein ungläubig, als könnten sie es nicht fassen, dass ich wirklich ein Zuhause besitze. Matze hielt mich zurück.
„Alex, der Abend geht doch gerade erst los. Wenn du pissen musst geh doch irgendwie … ins äh Gebüsch.“
„Hier gibt’s kein Gebüsch und meine Wohnung ist fünf Minuten entfernt.“
„Dann eben hinter den Fahrscheinautomaten. Ich komme mit. Ich muss auch.“
Das war offensichtlich das Stichwort für die Mädchen zu beschließen, dass sie jetzt mal weiter müssten und bewegten sich auf einen entfernten Ort am anderen Ende des Bahnsteigs zu.
Ich stand auf und ging die Bahnhofstreppe hoch.
„Hey, Alex, du machst dir echt ins Hemd wegen deiner Toilette… Hey, in vier Minuten kommt die nächste Bahn.“
„Mir ist die Lust vergangen.“
Vor allem Schwand meine Körperbeherrschung im Leistenbereich.
Auf dem Weg nach Hause plapperte Matze mir die genervten Ohren voll damit, wie enttäuschend er das doch jetzt fände, dass ich es nicht fertig brächte mal ein bisschen locker zu sein, so wie früher, bevor meine Ex mich so domestiziert hätte.
Ich schloss die Tür auf mit dem einzigen Gedanken endlich aufs Klo zu gehen und dem zweit dringensten Vorsatz mir gleich darauf Matze vorzuknüpfen. Das war nun endlich mal fällig.
Ich schloss die Tür auf, raste an Eli vorbei, die mit ihrem Krohnleuchter in der Hand im Flur stand und stürmte bei offener Klotür ins Bad, riss mir die Hose herunter und erleichterte mich. Matze und Elisabeth standen wie angewurzelt im Flur und sahen sich gegenseitig verdutzt an und dann zu mir hinüber. Keiner sagte ein Wort. Es gurgelte nur, die zwei Badkerzen brannten. Eine Art Idylle.
Ich spülte und stand entspannt auf. Mir fiel auf, dass Klopapier alle war. Ich zog die Hose hoch und wusch mir die Hände, drehte mich zu Eli um und schrie: „Was um alles in der Welt machst du hier?“ Mir fiel auf, dass sie irgendwie lädiert aussah.
„Ich war nur hier um meinen Krohnleuchter zu holen und du machst hier einen auf Penner. Ich bin in der dunklen Küche auf einer Bierlache ausgerutscht und landete in einem Haufen Glasscherben.“
Sie hielt ein rotfleckiges Knäuel Klopapier hoch in dem irgendwie ihre möglicherweise noch blutende Hand steckte.
Ich bekam Oberwasser. „Du Schnepfe hast ja auch alle Glühbirnen rausgeschraubt.“
„Ich habe nur meine Lampen mitgenommen. Da waren die Glühbirnen halt mit drin. Und außerdem ist das anderthalb Wochen her, du Blödian!“
Matze, der die ganze Zeit von einem Bein aufs andere gewippt war, schien sich nun richtung Tür schleichend verdrücken zu wollen. Ich erwischte ihn mit meinem Hirtenstab.
„Und mit dir bin ich auch noch nicht fertig, Freundchen! Glaubt ihr denn ich bin blöd? Klar. Du lockst mich raus, damit Eli hier in Ruhe meinen Kronleuchter wegholen kann!“
„Sag mal, hast du ne Meise?“ Das fragte der Richtige. „Ich hab keinen Schimmer was hier vor sich geht! Ich dachte, wir machen was los, aber… Ach, ich hau jetzt ab und pisse in deinen Briefkasten, du Idiot!“
Weg war er.
Das klang sehr überzeugend. Ich hielt ihn postwendend zumindest dieser Verschwörung für unschuldig.
„Ey, du bist echt krank.“ Jetzt kam sie wieder von schräg oben. „Unter einer Decke mit deinem Klugscheißerfreund.“
Jetzt war ich restlos von seiner Unschuld überzeugt.
„Ich lass den Kronleuchter jetzt hier und hole ihn demnächst ab, tagsüber. Ich gehe jetzt ins Krankenhaus und lass mir eine Tetanusspritze und einen vernünftigen Verband verpassen.“
Lass dir doch gleich ’n Herz verpassen, dachte ich.
Sie wandte sich zum Gehen. Es gab nichts mehr zu sagen außer einem noch.
„Ich dachte, du bist an der Algarve mit deinem Consulter.“
Sie blieb stehen und seufzte. Im Hausflur hörte man kurz nur Matze im Parterre beim Wasserlassen.
„Komm, lass mich in Ruhe mit deinen Hirngespinsten. Da is nix mit dem! Wer hat dir das erzählt? Das ist nur ein blöder Idiot. O.K.? Nichts weiter.“
Er hatte sie verlassen, oder sie ihn. Egal. Alles war in Ordnung.
Matze ließ die Haustür zufallen.
Ich schwieg. Sie ging. Ich schloss die Tür.
Ich ging in die Küche, zündete alle rum stehenden und noch nicht abgebrannten Kerzen an und begann aufzuräumen. Alle Flaschen in die Kästen, die Scherben weg, die Bier- und Blutlachen aufwischen. Es musste sie wirklich böse erwischt haben. Ich konnte die Schadenfreude nicht ganz vermeiden.
Irgendwann war die Küche wieder passabel.
Da sah ich, dass das eine Tischbein blutverschmiert war. Da muss man was machen, dachte ich, und ich wusste auch gleich was. Ich sprühte irgendwie trotz der Übernächtigung und all dem Ärger vor Energie. Dieses Gefühl hätte mir kein Partyabend mit Matze in irgendwelchen Nachtclubs bescheren können.
Ich hatte auf dem Zwischenboden im Flur noch schwarzen Bootslack stehen. Ich nahm, um den Aufräum-, Sauf- und Streitschweiß abzuwaschen erst einmal ein Duschbad. Danach holte ich den Lack, samt Werkzeugkasten vom Boden herunter, ging in die Küche, schmirgelte das Tischbein ab und begann, es sorgfältig zu streichen. Der Morgen graute, das Tischbein war schwarz und ich konnte die Augen nicht mehr offen halten. Den Pinsel legte ich noch in Terpentin ein, ging zu meiner Matratze schlafen, schlafen, lange schlafen.
Sieben Stunden später, halbwegs erfrischt, stand ich auf und ging in die Küche. Ich sah, dass der Tisch mit der schwarzen Farbe total blöd aussah. Also beschloss ich, ihn nicht weiter zu bearbeiten.
Innerlich spürte ich plötzlich den Impuls, meine Mutter anzurufen. Wer weiß warum.
Ich ließ den Tisch Tisch sein, setzte mich mit einem Notizblock auf den Küchenboden und machte mir einen Plan für den kurzen Rest meines Urlaubs. Ich hatte noch zwei Tage, mehr als genug. Erstmal den Briefkasten reinigen. Schloss austauschen. Kronleuchter wieder aufhängen, Wohnung einrichten… Ich hielt inne, sah zu dem Tisch. Der bleibt so, beschloss ich endgültig und dachte, aber erzählen, wie es dazu kam, kann man eigentlich niemandem.
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Kritiken zur KG „Der schwarze Fuß meines Tisches“ (GerateWohl)
Margot:
„Der schwarze Fuss meines Tisches“ / 2770 Wörter / erhalten 09.07
Stil, Bilder (Max. Punkte 10)
Der flapsige, schnoddrige Sprachstil passt gut zum Besäufnis der beiden Protagonisten / die Dialoge sind aber oftmals etwas wirr, entbehren aber nicht einer gewissen Situationskomik / gute Schlagabtausche zwischen den beiden Männern / Örtlichkeiten, Charaktere und Handlung werden plastisch geschildert /aufpassen bei Vergleichen (Arthur Dent, Ford Perfect etc.), nicht alle Leser kennen diese und verstehen daher den Witz nicht .. dies kann auch störend wirken
Punkte 8
Idee, Innovation (Max. Punkte 10)
Origineller Einstieg, macht Lust auf mehr / witzige Sequenz mit den Liebesbriefen / etwas verwirrend sind die beiden Namen Eli/Elisabeth (ich hielt die zuerst für zwei verschiedene Frauen)
Punkte 8.5
Formale Gesichtspunkte (Max. Punkte 10)
Kleinere Flüchtigkeitsfehler / mehr mit Absätzen arbeiten bei neuen Situation, Gedankengängen und Szenen) / die Sprache passt zu dem gewählten Thema und den Protagonisten / hätte den Schluss etwas offener gestaltet, die KG wirkt dadurch aber auch abgerundet / könnte noch etwas gekürzt werden (zum Teil etwas viel unnötiges Blabla)
Punkte 8
Total 24.5 /8,1
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Arno Boldt:
Der schwarze Fuß meines Tisches
Der Aufhänger und eigentliche Rahmen zur Geschichte ist der schwarze Fuß des Tisches. Die Charakterisierung der Personen gefällt mir sehr gut. Und die sprachliche Umsetzung gelingt am besten bei den Dialogen, obwohl ich mir gewünscht hätte, dass Matze an seiner alkoholisierten Sprache festhält und ab und an etwas öfter lallt. Zumindest wäre es plausibel gewesen, nicht so schnell wieder nüchtern zu sein. Der Anfang, obgleich zwar nicht unwitzig (besonders der Vergleich zwischen schwarzen Kinder- und Tischfüßen), war nicht ganz so spritzig, wie im folgenden Verlauf. Auch waren ein paar Rechtschreibfehler vorhanden. Da hätte ich mir etwas mehr Aufmerksamkeit gewünscht. Aber dem Text an sich haben sie kaum geschadet. Schön auch, dass die menschliche Suche nach Bestätigung durchkam: hier z.B., als der Erzähler sich Meinungen zurechtlegte, weshalb er verlassen wurde – während er gleichzeitig sagte, dass es ihm egal sei. Rund um also fast gelungen. Nur noch eines: warum der Erzähler platzte, als Matze meinte, ihm sei egal, wohin sie gingen – das war nicht plausibel genug geschildert. Es wirkte auf mich etwas überzogen. Insgesamt aber, nicht zuletzt wegen der gut-funktionierenden Dialoge, wohlverdiente 7,3 Punkte.
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Fabian:
Der schwarze Fuß meines Tisches
Sprache/Stil: 7,5
Inhalt/Idee: 8,5
Satzbau und Form: 7,5
Bewertung: 7,8
Platz 3
Auch hier ein guter Ansatz, eine nette Idee. Schwarze Beine/Füße haben eine Geschichte zu erzählen. Sowohl menschliche als auch Tischbeine. Beides wird anhand von Erlebnissen auch näher ausgeführt, was mir gut gefallen hat. Das einschneidende Sexerlebnis und das gebrochene Bein sind nachvollziehbar.
Insgesamt durchaus rund, aber schon zu Beginn etwas umständlich formuliert und mit kleineren sprachlichen Fehlern:
„Aber eigentlich haben ja nur kleine Tische Füße. Große Tische haben Beine, auf denen sie im Idealfall möglichst unwackelig in unserem Leben stehen, unter den man dann sitzend seine eigenen Füße stellt, ob nun verrußt, gewaschen, in Socken, Pantoffeln, barfuss oder in einer Schüssel warmen Wassers.“
Das „unter den“ passt hier nicht rein, wird ja vorher nicht vom „dem Tisch“ gesprochen sondern von Tischen und in erster Linie von Beinen und Füßen.
Worte, wie „blablabla“ und „Grummelgrummel“ wirken deplaziert.
„DringenDsten“ wird mit zweitem „d“ geschrieben.
Die Geschichte ist nett und menschlich nachvollziehbar dargestellt. Der verlassene Typ ist niedergeschlagen und besäuft sich mit seinem besten Kumpel, um seinen Frust abzulassen. Am Ende beschließt er, die Tischbeine schwarz anzumalen, um dieses Kapitel abzuschließen.
Allerdings gibt es ein paar Dinge, die nicht so ganz in den Zusammenhang passen.
Er merkt früh, dass er die CD-Sammlung mehr vermissen wird, als die Ex. Warum ist er dann so fertig? Weil es ihn natürlich trotzdem trifft, verständlich. Aber die Tatsache, dass er sie scheinbar auch nicht wirklich geliebt hat, schmälert den Effekt. Zumal er auch darüber jammert, dass es doch irgendwo noch nette Frauen geben muss, die ihn nicht so behandeln.
Wenn er sich den Tisch schon gekauft hat, als er noch Single war, wieso sollte seine Ex ihn dann als Mahnmal da lassen? Sie hätte doch sowieso keinen Anspruch darauf.
Der Grund für die Trennung wirkt eher ungelenk und ziemlich unglaubwürdig.
Die Stelle mit den Glühbirnen wirkt komisch. Warum schraubt sie die Glühbirnen aus dem Kronleuchter, wenn sie ihn auch mitnehmen will?
Fazit: Eine Geschichte aus dem Leben. Unterhaltsam und mit schönem Grundgedanken, den Geschichten hinter schwarzen Füßen. Ausbaufähig in der Ausführung und in den Details.
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Platz 3: "Siedenbachs Schatten" (Erebus)
Hier, am Rande der Großstadt, fliegen schon lange keine Schwalben mehr durch
die Luft. Der Sommer ist staubig von zerfallendem Taubenkot und Reifenabrieb,
an heißen Tagen riecht es zur Mittagszeit nach weichem Asphalt.
Jetzt aber riecht es nach Rasenschnitt, so frisch und vormittaglich, so duftig,
als ob der Sommer grade heute die besondere Aufgabe habe, zu zeigen, wie
hingebungsvoll er ist.
Dabei ist es schon nach fünf Uhr nachmittags. Die Schatten der beiden
Kastanien werden länger und ab und zu geht ein leichter Hauch durch die
Blätter. Sie schaukeln sanft und manchmal rauscht es ein wenig.
Im Sandkasten vor dem Hochhaus sitzen drei Jungen auf der steinernen
Umfassungsmauer und unterhalten sich. Sie werfen nebenbei Sand in die tiefer
liegende, ausgeschabte Mitte des Kastens. Dazu benutzen sie ihre Sandalen wie
Schippchen und häufen kleine Berge auf, die sie mit der Sohle in Form bringen.
Anschließend schütteln sie den Sand mit ausgestrecktem Bein an der Ferse aus
den Sandalen.
Dann wieder graben sie mit den Händen, die wie Schaufeln geformt sind, langsam
und hingebungsvoll hinein in die dunkleren, schwereren Sandschichten, kratzen
genussvoll den feuchten Sand hervor.
Ihre Bewegungen sehen so absichtslos aus, sie passen so genau zu der
Unverbindlichkeit des Tages, dass man den Eindruck hat, die Welt sei fest
gefügt und ohne jeden Argwohn. Genau so wie die Unterhaltung, die sie führen.
Die geht über Kristofs neues Fahrrad, dessen Speichen in der Sonne glitzern,
über Mutmaßungen um die Rückkehr Dumbledoors und um den Ausflug zum Freibad,
der für morgen geplant ist.
Frau Hellerich will mit ihren Söhnen Jens und Axel und dem Freund, Kristof
Beinmann, in aller Herrgottsfrühe zum NauticDream fahren. Mit dem Fahrrad,
weil das gesund und umweltverträglich ist, und mit belegten Broten. Irgendwo
zwischendurch wird ein Picknick veranstaltet. Frau Jakob will sich mit ihren
beiden Töchtern und Ferdinand anschließen. Ferdinand ist der Hund.
Die drei sitzen da, es ist eine Pause eingetreten, sie schweigen versonnen und
schauen sich selbst beim Modellieren der Sandberge zu. Ihre Köpfe sind schief
gelegt, ab und zu blinzeln sie in Richtung der Sonne nach Südwesten, über die
Grünflüche, an der Kastanie vorbei zu den Garagen. Dorthin, wo nach und nach
die Väter und Mütter von der Arbeit oder vom Einkaufen zurückkehren und ihre
Autos verstauen.
Die Fahrräder blockieren, sorglos hingeworfen, den Fußweg, der von der Strasse
zum Hochhaus führt. Das stört niemanden, denn es ist niemand da, den es stören
könnte - nur Frau Jedwitz, die so, wie sie es immer tut, auf ihren Balkon im
fünften Stockwerk heraustritt, an irgendetwas herumkramt, einen Blick in die
Runde wirft und wieder im Inneren ihrer verschatteten Wohnung verschwindet.
Aber Frau Jedwitz betritt das Hochhaus gewöhnlich auf der anderen Seite und
benutzt diesen Weg nicht. Sie hätte keine Scheu, ein entsprechendes Verhalten
der verzogenen Lümmel einzufordern. Laut und diagonal an der gesamten Fassade
der Hochhauses entlang zu rufen, ob sie denn zu unerzogen seien, die Fahrräder
ordentlich abzustellen. Ihre Stimmkraft hat sie schon des öfteren unter Beweis
gestellt. Wenn die wilde Jagd mal durch die Rosenrabatten führte, oder die
Kinder laut herumkrakeelten. Sie kann die erschrocken Blicke kaum erwarten,
mit dem die Angerufenen zu ihr hinauf starren, bevor sie miteinander tuscheln,
ihre Fahrräder nehmen und um die Ecke des Hochhauses verschwinden.
Aber es riecht so versöhnlich nach Rasenschnitt.
Und als ob die drei ihre Verträglichkeit spürten, nehmen sie überhaupt keine
Kenntnis von Frau Jedwitz.
Die klein gehackten Halme liegen im Sandkasten herum, vom fünften Stock aus
gesehen ist der Sand mit einem grünlichen Schimmer überzogen. Auch auf dem
Gehweg, der die Rasenfläche umschließt, liegt ein Hauch Grün.
Hinter ihr läuft leise der Fernseher, Frau Jedwitz steht eine Weile
unschlüssig am Geländer des Balkons, bevor sie sich brüsk umwendet und wieder
hineingeht. In der Küche ist noch das Geschirr einzuräumen. Das
Kunststoffimitat der bunten Bambusmatte, das den gesamten Balkon umspannt ist
ausgeblichen, rechts stärker als links. Es klopft im lauen Windzug beruhigend
gegen das Geländer. So ruhig. Nur das Rauschen der Schnellstraße, die ein paar
hundert Meter weiter, hinter dem Park verläuft, dringt gedämpft heran. Man
hört es kaum.
Da liegt das Hochhaus auf seiner Raseninsel, wie ein Ozeandampfer am Anleger,
mit buntbewimpelten Balkonen. Und wenn mann daran vorbei in den Himmelschaut,
wo weiße Wolken nach Osten ziehen, dann könnte man meinen, es kreuzt durch die
See.
Es wird von einem Straßenring umschlossen, gefolgt von Häuserreihen, die sich
wie die Finger einer Hand abspreizen. Dazwischen sind Doppelhäuser und
Freiland eingestreut. Im Norden, Osten und Westen wird alles vom städtischen
Park umschlossen, idyllisch umgürtet, der jenseits der Schnellstrasse in die
Wälder des Taunus übergeht.
Bis auf die Zufahrtsstraße im Süden, zur Stadt hin - da geht es staubig in die
weite Welt - ist die Siedlung ganz in sich geschlossen, ganz für sich.
Von dieser Zufahrtsstraße her kommt Theo, wie aus dem Nichts. Seine Schritte
dringen wie ein gemächlich lauter werdendes, tackendes Metronom in den
Nachmittag.
Theo, mit dem niemand spricht, weil er sowieso nicht antwortet. Zu Theo sagen
fünf Kinder nur „Theo“, weil er nicht der richtige Vater ist. Kein Mensch weiß,
warum Martha noch einmal heiratete, nachdem sie endlich von Bruchmann
geschieden wurde, und vor allem, warum ausgerechnet den Theo Hellerich,
Vielleicht wegen des Geldes. Aber bestimmt nicht um einen Mannes an ihrer
Seite zu wissen, denn Theo ist eine Erscheinung, ein pünktliches Phänomen,
unerklärlich in seinem Auftreten, aber kein Mann. Theo ist nicht so, wie ein
Mann zu sein hat, abgesehen von seinem pünktlichen Auftreten ist Theo nicht
vorhanden.
Theo erscheint und man könnte die Uhr nach ihm stellen. Jetzt ist es
beispielsweise kurz nach halb sechs. Theo kommt von der Arbeit, zu Fuß, weil
er keinen Führerschein hat. Er schaut vor sich hin auf den rissigen Asphalt
des Bürgersteiges: grade hier, wo die Ringstrasse in die Zufahrtsstrasse
mündet, werden immer wieder die unterirdischen Versorgungs- und
Abwasserleitungen repariert, oder verbessert - auch das weiß kein Mensch.
Deshalb ist der Asphalt wie ein Flickenteppich, hubbelig und voller
Überraschungen, von den Gärten her durchwachsen mit Flieder- und Birkenwurzeln.
Theo tritt vom Bürgersteig auf die Strasse, überquert sie, ohne den Kopf zu
heben und betritt den Gehweg zum Hochhaus. Jens und Axel schauen ihm entgegen,
dann blickt auch Kristof auf.
In der Faust hält Theo den dünnen Griff seiner Aktentasche. Er geht den Fußweg
am Sandkasten hoch, hält kaum wahrnehmbar inne, schwenkt unmittelbar vor den
Fahrrädern nach links auf den Rasen, geht hinter den Bänken entlang über die
Wiese.
"N' abend Theo" sagt Axel, Jens ruft "Hallo Theo". Theo schaut nicht auf,
antwortet nicht, geht geradeaus weiter, schaut auf seine Schuhe, die im kurz
geschnittenen Rasen einsinken und kehrt nicht mehr auf den Fußweg zurück.
Vielleicht hat Theo soeben etwas Neues entdeckt, einen Rasen, so, wie man
einen Kontinent entdeckt und dann erobert. Gut möglich, dass er morgen genauso
gehen wird, auch ohne Fahrräder: über das weiche Gras auf die dürftige
Rosenrabatte zu. Theo geht in sich versunken über den Rasen und der Rasen
wächst unter seinen Schuhen, wird eines Tages krautig und fleckig werden, bis
ihn der nächste Schnitt wieder weich und frisch macht und Theo weiß das.
Axel und Jens schauen wieder in den Sandkaste. Kristof sieht der Aktentasche
nach, die ist aus dunklem Narbenleder, altmodisch, und oben, wo die Klappe sie
wie ein Tunnel im Halbkreis verschließt, faserig und abgegriffen.
Kristof blickt der Tasche nach und Theo, mit dem niemand weiter spricht, nimmt
den Rasen in sich auf, während er schweigend darüber hin schreitet. Den Gruß
seiner Stiefkinder erwidert er nicht. Vielleicht ist seine Arbeit zu schwer.
Am Ende der Grünfläche angelangt, übersteigt Theo mit einem Schritt die
Rosenbüsche, die schmächtig, fast blattlos am Boden verkümmern. Zwischen den
heruntergetretenen Ästen stecken die Fetzen einer kleingemähten weißen
Kunststofftüte. Er überquert den Vorplatz der Kneipe, schlängelt sich zwischen
den Tischen und Stühlen hindurch, auf denen niemand sitzt. Er hört einen
lauten Knall vom Parkplatz, von den Garagen her, schaut aber nicht auf und
verschwindet in der offen stehenden Kneipentür.
Punkt viertel nach neun wird er dort wieder auftauchen und nach Hause
gehen, zu Martha Hellerich und den fünf Kindern.
Mit links zieht Herr Siedenbach das Garagentor herunter, das rasselnd und mit
einem abschließenden Knall die Stille unterbricht. Die Jungen blicken auf,
auch wenn sie das, was nun folgt, längst kennen. Siedenbach zelebriert jedes
mal das gleiche ritualisierte Verschließen der Garage und den gleichen Beifall
heischenden Gang nach Hause, so dass man ihm ganz gedankenverloren dabei
zusehen kann. Es ist schön, wenn etwas passiert, das harmlos ist, was die
Dinge belässt, wie sie sind: wenn etwas friedlich fließt.
Bei Herrn Siedenbach fließt alles. Alles fließt zu einer einzigen Bewegung
zusammen, die scheinbar nicht enden will. Herr Siedenbach ist Bewegung,
elegant, geschmeidig und routiniert.
Möglicherweise unterbricht er sich, wenn er schläft. Es ist ja schlecht
vorstellbar, dass er sich auch dann in Bewegung hält, möglicherweise weiß
seine Frau mehr, Frau Siedenbach, die nur zum Einkaufen das Haus verlässt. Die
Siedenbachs sind kinderlos.
Und so hatte Herrn Siedenbach viel Zeit, genau zweiundfünfzig Jahre, um
Bewegung zu üben. Siedenbach richtet sich aus gebeugter Haltung auf, die Akten,
Briefe, Seminareinladungen und Prospekte ordentlich unter dem rechten Arm
eingeklemmt und unten von der Hand umschlossen.
Mit der Linken lässt er den Griff des Garagentores los, greift in die
Jacketttasche, holt den umfangreichen Schlüsselbund hervor, der schon
vorbereitet in der Tasche auf diesen Moment wartete. Er greift den ersten
Schlüssel vor dem Schild, das dem Schlüsselbund ein offizielles Aussehen gibt,
und fädelt ihn sauber - alles in einer einzigen, sanft fließenden Bewegung -
in das Schloss ein. Er dreht den Schlüssel, dreht dabei selbst den Kopf über
die rechte Schulter hin zu seinem Publikum, den Hellerich-Bruchmann- Jungs und
Kristof, zieht den Schlüssel ab und geht ansatzlos in eine schlenkernde
Fortbewegung über. Man sieht ihm die Genugtuung über das gelungene Manöver an.
Nun wendet er sich auf dem rechten Absatz, diesmal etwas weiter als gewöhnlich.
Denn er hat mit einem Blick die Lage gepeilt und eingeschätzt. Die Fahrräder
verhindern den normalen Weg am Sandkasten vorbei: er wird über die Strasse
gehen müssen. Nun gut, warum nicht, das ist eine kleine Abwechslung. Den
Schlüsselbund hält er am leicht abgespreizten linken Arm, als sei derjenige
Teil des Bewegungsablaufes, der Hand und Arm betraf, beim Verschließen des
Tores eingefroren. Den Daumen hat er durch den Ring des Bundes gesteckt, den
er beiläufig, rhythmisch schüttelt. Die Schlüssel geben das Marschtempo an.
Siedenbach pfeift laut und unbekümmert "my bonny is over the ocean",
durchsetzt vom Geklimpere, während er trappsig-schlacksig wie eine Bimmelbahn
auf der Strasse vorüberzieht. Den gaffenden Jungs widmet er ein jugendliches
Nicken.
Frau Jedwitz steht auf dem Balkon und sieht der Siedenbachparade zu, es
klimpert bereits zu ihr herauf, bevor Siedenbach um die Hochhausecke herum ist.
Im selben Moment dringt ein zusätzliches Geräusch zu ihr her. Das muss aus der
Kneipe kommen. Sie kennt die Melodie, zwar nicht so gut wie "my bonny" - das
hört sie schließlich täglich, sofern sie zum richtigen Zeitpunkt auf dem
Balkon ist -, es ist "loosing my religion" von REM. Ihre Tochter hörte das vor
Jahren, als sie noch zu Hause wohnte. Frau Jedwitz denkt an die Wäsche und
ihre Tochter, will schon in die Wohnung um ein paar Handgriffe zu tun,
überlegt es sich aber noch einmal. Heike ist ja schon ausgezogen.
Wenn jemand darüber nachdenken würde, käme er zu dem Schluss, dass Theo nicht
allein in der Kneipe ist. Theo hört keine Musik, wenigstens weiß man davon
nichts, und Kunert, der Wirt, schon dreimal nicht. Nicht, wenn er nicht muss.
Siedenbach lässt sich von REM nicht beeindrucken und zieht weiter. Am Hochhaus
stehen fast alle Balkontüren auf, auch die Verandatüren der Reihenhäuser. Bei
Müllers hört man jetzt das wütende Klackern einer Schreibmaschine. Müller
schreibt Bettel- und Protestbriefe. Müller ist arbeitslos und läuft tags wie
nachts im Morgenmantel zu dem Briefkasten neben der Telefonzelle, die
Siedenbach gerade passiert.
Seidenbach sieht rechts die Äpfel am Baum der Mettlers, dahinter den
Kirschbaum von Spielhoffs, schon abgeerntet. Dann die schmucke Birke im
eigenen Garten und, noch weiter dahinter, die Buchen des Parks.
Vor dem Hochhaus, auf der Wiese, berührt der Schatten der westlichen Kastanie
den Sandkasten. Durch den Schatten der anderen klimpert Siedenbach, dann
überquert er die Strasse, die seit drei Jahren eine Einbahnstrasse und
beidseitig dicht zugeparkt ist. Seidenbach schlängelt sich an dem Fiesta
seiner Frau vorbei auf den Gehweg.
Sein Blick streift wohlwollend über die Gärten und er weiß, dass Blicke auch
auf ihn gerichtet sind. Die Jedwitz guckt wieder mal von ihrem Ansitz hinter
der geschmacklosen Plastikbrustwehr herunter, er nickt munter hinauf. Denn er
belohnt alle Blicke, die seinem Auftritt gelten. Blicke, die er aus den
dunklen Verandatüröffnungen und hinter Küchenfenstern ahnt, er belohnt sie mit
seinem Wohlwollen. Es riecht nach frisch geschnittenem Gras, und plötzlich
denkt er daran, dass er den Rasen schneiden müsste, das Klirren auf "bonny"
kommt etwas zu spät, er beschließt aber, das erst am Wochenende zu machen, und
schon liegt er wieder im Takt. Die Musik aus der Kneipe ist verhallt.
Kristof sieht die Sonne in den Speichen seines Fahrrads glitzern, das
Vorderrad dreht sich leicht im Wind. Ein Verpackungspapierchen, das mitsamt
einem Eishölzchen zwischen die Latten der Bank eingeklemmt ist, knistert. Axel
schaut auf, sieht das Papierchen zappeln und dahinter die Sonnenflecken im
Schatten der Kastanie. Er blickt verträumt.
Auch Frau Jedwitz sieht die glitzernden Speichen. Die Sonne ist längst hinter
der Ecke des Hochhauses verschwunden, hinter dem Geglitzer, das zu ihr
heraufzwinkert, dehnt sich der Hang hinab zur Vorstadt, von hier oben kann sie
alles weit überschauen.
Siedenbach nickt von unten herauf, sie nickt zurück, legt theatralisch die
Hand beschattend über die Augen, dabei ist hier, auf der Südostseite des
Hochhauses überall Schatten, und blickt über die mittlere Häuserreihe zum Wald.
Dahinten sieht sie das Altersheim, und etwas entfernter die Funkantennen des
Truppenübungsplatzes. Das Rauschen der Schnellstraße ist heute auch hier oben
im fünften Stock nicht so laut wie sonst. Siedenbach geht den Weg vor der
zweiten Häuserreihe entlang, grüßt nach links zur Veranda von Jakobs hinüber.
Siedenbach wohnt im sechsten Haus, direkt hinter dem Haus der Hellerichs.
Die Jungs sitzen immer noch im Sand, aber im Schatten werden sie nun unruhig.
Die Musik aus der Kneipe ist verklungen, auch Herr Siedenbach ist nicht mehr
zu hören, seit er zwischen den Häuserreihen verschwand. Sie stehen auf und
gehen unentschlossen auf die Fahrräder zu. In diesem Augenblick schwillt ein
neues Geräusch in die Luft, eine Art Pfeifen, sie blicken gleichzeitig in
Richtung der Garagen.
Frau Jedwitz hört ebenfalls das Pfeifen, das aus dem Pfeifen Siedenbachs
hervorzutreten scheint und schaut nach rechts. Sie sieht, dass die drei Jungs
wie auf Kommando den Kopf drehen und zu den Garagen blicken, die ihrem Blick
leider verborgen bleiben, weil sie hinter der Hochhausecke liegen.
Jens sieht das Ding am südwestlichen Eck der Siedlung auftauchen, es saust
über den Garagenanbau hinweg auf sie zu, überquert den Parkplatz, die Kastanie
und den Sandkasten. Es huscht hinüber zu den Reihenhäusern, die es mit einem
eleganten Hüpfer überspringt. Dann noch ein Hüpfer, hinauf über die Bäume im
Park, hinter deren Wipfeln es verschwindet.
Mit einem Mal, im selben Moment, als sich das Ding in das Blickfeld Frau
Jedwitzs schiebt, dringt ein schriller Lärm zu ihr, sie folgt ihm mit den
Augen und denkt: Oh Gott, und dass sie etwas tun müsse, denn das Leben muss
schließlich weiter gehen. Aber sie kann sich von dem Anblick nicht losreißen.
Frau Jedwitz sieht die hübschen Schlenker, als der weiße, dünne Körper in zwei
Stufen zunächst die Häuserzeile, dann den Waldrand erklimmt. Sie sieht die
weiße Röhre schnurgerade über die Wipfel weiter eilen und hinter dem Park,
links neben den Antennen, verschwinden. Frau Jedwitz bemerkt, dass der
Pfeifton abschwillt. Unten ist Siedenbach irgendwie an seiner Haustür erstarrt.
Siedenbach hat den Schlüssel im Schloss etwas verbogen, als er plötzlich, ganz
deutlich, etwas über sich spürte. Einen kreischenden Schemen, der sogleich
wieder über den Bäumen verschwand. Er drehte den Kopf nach links, entgegen der
Aufschließbewegung, die er gleichzeitig ausführte, mag sein, daran lag's. Der
Schlüssel geht nur schwer wieder aus dem Schloss heraus, aber den kann er
wieder grade biegen.
Er steht leicht gebückt vor seiner halb geöffneten Haustür. Eigentlich könnte
er auch klingeln, seine Frau ist sowieso immer zu Hause. Warum eigentlich
nicht, vielleicht würde sie sich ja freuen, ihm abends die Tür zu öffnen. Er
richtet sich auf und bemerkt an der rechten oberen Türecke einen hässlichen
Spinnweben. Den sieht er so deutlich, wie nur irgend etwas... wie er noch nie
etwas sah. Wie der Spinnweb dort baumelt im hellsten Licht. So gleißend, dass
es Siedenbachs Schatten, der zum erstenmal auf diese Tür fällt, auffrisst, von
den Rändern her zur Mitte. Herr Siedenbachs Schatten wird vollständig
aufgefressen.
Theo sitzt am Tresen und bemerkt, wie das Licht rechts durch die offen
stehende Tür hereinkommt, es kriecht etwas flackerig am Eingang herum und
huscht mit einem Satz zu ihm in den Schankraum. So, als würde ein blendendes
Weiß hereingekippt, in einem grellen Band zu ihm hingerollt. Auch hinter den
dunklen Butzenscheiben ist es mit einem Mal hell, unerträglich hell. Die Sonne
ist auf den Vorplatzes gefallen.
"n' Ufo" kreischt Jens in den Lärm hinein, Axel schüttelt den Kopf, "nee, 'ne
Rakete". Der Lärm lässt nach, dafür wird überm Wald der Himmel grünlich, dann
platzt eine gelbe Blase ins Grünliche hinein, die wird weiß und mächtig,
stürzt sich auf den Wald. Und der schrumpft. Der Wald wird zum Scherenschnitt,
helle Löcher brechen darin auf, werden groß und größer und fließen zusammen.
Axel dreht mit einer wilden, panischen Bewegung den Kopf und sieht Theo, der
auf dem Barhocker sitzt, auf einem Band schiersten Lichtes, und mit hellrosa
Blick zu ihm herglotzt, blinzelt und die Augen schließt.
Frau Jedwitz will eigentlich hineingehen, aber das geht jetzt nicht. Sie sieht
den Keim neben den Antennen, der wirft sein grelles Wachstum rasend über den
Park auf sie zu, saugt alle Farbe aus der Welt und zeigt die Dinge für
Sekundenbruchteile in einem ursprünglichen, eigentümlichen Schwarz. Das ist so
kümmerlich und nichts sagend ... und dann zerschmelzen die Dinge wie das Glas
in Theos Hand, aus dem das Bier verdampft.
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Kritiken zur KG „Siedenbachs Schatten“ (Erebus)
Margot:
„Siedenbachs Schatten“ / 2996 Wörter / erhalten 05.09.07
Stil, Bilder (Max. Punkte 10)
Sehr ausführlich mit genauen Details und Beschreibungen / Bilder werden deutlich projiziert und sind leicht nachzuvollziehen / heutiger Standart / flüssiger Schreibstil, den angenehm zu lesen ist / durch die akribischen Beschreibungen aber auch zum Teil etwas langatmig / Spannungsbogen fehlt, bzw. kommt er zu spät .. man lechzt geradezu danach, dass endlich etwas passiert / das Switchen zwischen den Protagonisten macht die Geschichte etwas sprunghaft / für meinen Geschmack zu viele Charaktere
Punkte 9
Idee, Innovation (Max. Punkte 10)
Vorstadt-Idylle und Atombombe = gefällt / die Jungen erinnern etwas an Kings ‚stand by me’ und automatisch bekommt man die Erwartungshaltung, dass bald eine Leiche auftaucht / die Charaktere sind liebevoll ausgeschmückt, werden dadurch aber auch etwas zu ausladend für eine KG (mehr mit Stereotypen arbeiten)
Punkte 9
Formale Gesichtspunkte (Max. Punkte 10)
Rechtschreibung gut mit gelegentlichen Flüchtigkeitsfehlern / Grammatik dito / Satzbau könnte etwas straffer sein. Verschachtelte Sätze vermeiden, damit Tempo entsteht / Sprache: einer KG angemessen (schlicht, wie die Menschen und das Geschehen) / ab und zu blitzen philosophische Sätze und Betrachtungen auf, die vermuten lassen, der Autor bemühe sich jetzt, literarisch zu sein (kann, muss aber nicht in eine KG) / Manko: keine Dialoge = wirkt daher zuweilen monoton / guter, offener Schluss, aber zu langer Einstieg / etwas zu umfangreich für eine KG, eher eine Novelle
Punkte 8
Total 26/ 8,6
****************************************************************
Arno Boldt:
Siedenbachs Schatten
Der Text ist zweifelsohne eine schwere Kost. Detailverliebt – möchte ich schon sagen – wechseln sich Beschreibungen zur Umgebung und Aneinanderreihungen von Namen ab. Letztere finden nicht wirklich zueinander, auch wenn einige Beziehungen aufgemacht werden. Der Text gibt dem Leser kaum Zeit, alles so schnell verarbeiten zu können – um sich letztlich auch ein Bild von der Szenerie machen zu können. Wäre es ein Roman oder längere Geschichte, könnte man sich auch die vielen Einstreuungen oder Details erlauben – aber auch dann nacheinander – immer mal wieder - und nicht in so einer Kompaktheit. Einige Sätze wankten auch ungelenk daher, manch andere Wortgruppen waren – in meinen Augen – überflüssig. Warum ich das hier so betone? Es zieht sich bis zu einem bestimmten Punkt, an dem ein Unbekanntes auftaucht. Die Hälfte des Textes ist schon passiert und ich – als Leser – hatte gehofft, dass jetzt der Moment der Schnelle kommt – bei dem nicht alles haargenau beschrieben werden soll. Wo die Langatmigkeit des Alltags in dieser Wohnsiedlung aufgebrochen wird - wo es heißt: RUMMS, PENG, PUFF. Doch leider änderte sich an der Schreibe fast nichts. Aber das alles soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eine Idee zugrunde liegt, die mir gefällt. Einige Alltäglichkeiten der Bewohner waren durchaus witzig und v.a. auch gut beobachtet; und man erkannte Einiges aus seiner eigenen Jugend wieder. Daher bekommt dieser Text für mich 5,7 Punkte.
*******************************************************************
Fabian:
Siedenbachs Schatten
Sprache/Stil: 9/10
Inhalt/Idee: 7/10
Satzbau und Form: 9
Bewertung: 8,3
Platz 2
Kritik:
Sprachlich die beste Geschichte. Schon die Einleitung besticht durch schöne Bilder. Besonders gut gefallen mir die immer wieder eingeschobenen Vergleiche, die ebenfalls bildreich sind und das Ganze plastischer machen.
Bspl:
„Seine Schritte dringen wie ein gemächlich lauter werdendes, tackendes Metronom in den Nachmittag.“
Der duftende Rasenschnitt begleitet die Geschichte ebenso, wie die auf dem Weg liegenden Fahrräder und passt sich in das Gesamtbild der detailliert beschriebenen Szenerie einer trägen Stadt-Hochhaus-Wohnanlagenidylle.
Und hier liegt auch das Problem der Geschichte. Obwohl sie durchaus spielerisch und lesenswert dargestellt wird, bleibt es doch weitgehend oberflächlich und eine Identifizierung mit irgendeinem der Charaktere bleibt, für mich jedenfalls, aus. Keiner der Protagonisten ist liebenswert bzw. tritt so in Erscheinung, dass man sich mit ihm solidarisieren könnte. Dadurch verpufft der Knalleffekt am Ende im luftleeren Raum.
Ich hätte mir zumindest eine Person gewünscht, die ich vermissen könnte, wenn sie von einer Atomrakete weggeblasen würde. Die ist aber in der Geschichte nicht vorhanden.
Formal gilt auch hier, dass die Satzzeichen vor die letzten Gänsefüßchen kommen, wenn ein Satz mit der Direkten Rede endet.
Kleinere Fehler, wie „Sie kann die erschrocken Blicke kaum erwarten“, fallen kaum auf.
Fazit: Stilistisch und sprachlich sehr überzeugend, aber inhaltlich etwas zu steril.
**********************************************************************
[zurück zur Gesamtbewertung]
Hier, am Rande der Großstadt, fliegen schon lange keine Schwalben mehr durch
die Luft. Der Sommer ist staubig von zerfallendem Taubenkot und Reifenabrieb,
an heißen Tagen riecht es zur Mittagszeit nach weichem Asphalt.
Jetzt aber riecht es nach Rasenschnitt, so frisch und vormittaglich, so duftig,
als ob der Sommer grade heute die besondere Aufgabe habe, zu zeigen, wie
hingebungsvoll er ist.
Dabei ist es schon nach fünf Uhr nachmittags. Die Schatten der beiden
Kastanien werden länger und ab und zu geht ein leichter Hauch durch die
Blätter. Sie schaukeln sanft und manchmal rauscht es ein wenig.
Im Sandkasten vor dem Hochhaus sitzen drei Jungen auf der steinernen
Umfassungsmauer und unterhalten sich. Sie werfen nebenbei Sand in die tiefer
liegende, ausgeschabte Mitte des Kastens. Dazu benutzen sie ihre Sandalen wie
Schippchen und häufen kleine Berge auf, die sie mit der Sohle in Form bringen.
Anschließend schütteln sie den Sand mit ausgestrecktem Bein an der Ferse aus
den Sandalen.
Dann wieder graben sie mit den Händen, die wie Schaufeln geformt sind, langsam
und hingebungsvoll hinein in die dunkleren, schwereren Sandschichten, kratzen
genussvoll den feuchten Sand hervor.
Ihre Bewegungen sehen so absichtslos aus, sie passen so genau zu der
Unverbindlichkeit des Tages, dass man den Eindruck hat, die Welt sei fest
gefügt und ohne jeden Argwohn. Genau so wie die Unterhaltung, die sie führen.
Die geht über Kristofs neues Fahrrad, dessen Speichen in der Sonne glitzern,
über Mutmaßungen um die Rückkehr Dumbledoors und um den Ausflug zum Freibad,
der für morgen geplant ist.
Frau Hellerich will mit ihren Söhnen Jens und Axel und dem Freund, Kristof
Beinmann, in aller Herrgottsfrühe zum NauticDream fahren. Mit dem Fahrrad,
weil das gesund und umweltverträglich ist, und mit belegten Broten. Irgendwo
zwischendurch wird ein Picknick veranstaltet. Frau Jakob will sich mit ihren
beiden Töchtern und Ferdinand anschließen. Ferdinand ist der Hund.
Die drei sitzen da, es ist eine Pause eingetreten, sie schweigen versonnen und
schauen sich selbst beim Modellieren der Sandberge zu. Ihre Köpfe sind schief
gelegt, ab und zu blinzeln sie in Richtung der Sonne nach Südwesten, über die
Grünflüche, an der Kastanie vorbei zu den Garagen. Dorthin, wo nach und nach
die Väter und Mütter von der Arbeit oder vom Einkaufen zurückkehren und ihre
Autos verstauen.
Die Fahrräder blockieren, sorglos hingeworfen, den Fußweg, der von der Strasse
zum Hochhaus führt. Das stört niemanden, denn es ist niemand da, den es stören
könnte - nur Frau Jedwitz, die so, wie sie es immer tut, auf ihren Balkon im
fünften Stockwerk heraustritt, an irgendetwas herumkramt, einen Blick in die
Runde wirft und wieder im Inneren ihrer verschatteten Wohnung verschwindet.
Aber Frau Jedwitz betritt das Hochhaus gewöhnlich auf der anderen Seite und
benutzt diesen Weg nicht. Sie hätte keine Scheu, ein entsprechendes Verhalten
der verzogenen Lümmel einzufordern. Laut und diagonal an der gesamten Fassade
der Hochhauses entlang zu rufen, ob sie denn zu unerzogen seien, die Fahrräder
ordentlich abzustellen. Ihre Stimmkraft hat sie schon des öfteren unter Beweis
gestellt. Wenn die wilde Jagd mal durch die Rosenrabatten führte, oder die
Kinder laut herumkrakeelten. Sie kann die erschrocken Blicke kaum erwarten,
mit dem die Angerufenen zu ihr hinauf starren, bevor sie miteinander tuscheln,
ihre Fahrräder nehmen und um die Ecke des Hochhauses verschwinden.
Aber es riecht so versöhnlich nach Rasenschnitt.
Und als ob die drei ihre Verträglichkeit spürten, nehmen sie überhaupt keine
Kenntnis von Frau Jedwitz.
Die klein gehackten Halme liegen im Sandkasten herum, vom fünften Stock aus
gesehen ist der Sand mit einem grünlichen Schimmer überzogen. Auch auf dem
Gehweg, der die Rasenfläche umschließt, liegt ein Hauch Grün.
Hinter ihr läuft leise der Fernseher, Frau Jedwitz steht eine Weile
unschlüssig am Geländer des Balkons, bevor sie sich brüsk umwendet und wieder
hineingeht. In der Küche ist noch das Geschirr einzuräumen. Das
Kunststoffimitat der bunten Bambusmatte, das den gesamten Balkon umspannt ist
ausgeblichen, rechts stärker als links. Es klopft im lauen Windzug beruhigend
gegen das Geländer. So ruhig. Nur das Rauschen der Schnellstraße, die ein paar
hundert Meter weiter, hinter dem Park verläuft, dringt gedämpft heran. Man
hört es kaum.
Da liegt das Hochhaus auf seiner Raseninsel, wie ein Ozeandampfer am Anleger,
mit buntbewimpelten Balkonen. Und wenn mann daran vorbei in den Himmelschaut,
wo weiße Wolken nach Osten ziehen, dann könnte man meinen, es kreuzt durch die
See.
Es wird von einem Straßenring umschlossen, gefolgt von Häuserreihen, die sich
wie die Finger einer Hand abspreizen. Dazwischen sind Doppelhäuser und
Freiland eingestreut. Im Norden, Osten und Westen wird alles vom städtischen
Park umschlossen, idyllisch umgürtet, der jenseits der Schnellstrasse in die
Wälder des Taunus übergeht.
Bis auf die Zufahrtsstraße im Süden, zur Stadt hin - da geht es staubig in die
weite Welt - ist die Siedlung ganz in sich geschlossen, ganz für sich.
Von dieser Zufahrtsstraße her kommt Theo, wie aus dem Nichts. Seine Schritte
dringen wie ein gemächlich lauter werdendes, tackendes Metronom in den
Nachmittag.
Theo, mit dem niemand spricht, weil er sowieso nicht antwortet. Zu Theo sagen
fünf Kinder nur „Theo“, weil er nicht der richtige Vater ist. Kein Mensch weiß,
warum Martha noch einmal heiratete, nachdem sie endlich von Bruchmann
geschieden wurde, und vor allem, warum ausgerechnet den Theo Hellerich,
Vielleicht wegen des Geldes. Aber bestimmt nicht um einen Mannes an ihrer
Seite zu wissen, denn Theo ist eine Erscheinung, ein pünktliches Phänomen,
unerklärlich in seinem Auftreten, aber kein Mann. Theo ist nicht so, wie ein
Mann zu sein hat, abgesehen von seinem pünktlichen Auftreten ist Theo nicht
vorhanden.
Theo erscheint und man könnte die Uhr nach ihm stellen. Jetzt ist es
beispielsweise kurz nach halb sechs. Theo kommt von der Arbeit, zu Fuß, weil
er keinen Führerschein hat. Er schaut vor sich hin auf den rissigen Asphalt
des Bürgersteiges: grade hier, wo die Ringstrasse in die Zufahrtsstrasse
mündet, werden immer wieder die unterirdischen Versorgungs- und
Abwasserleitungen repariert, oder verbessert - auch das weiß kein Mensch.
Deshalb ist der Asphalt wie ein Flickenteppich, hubbelig und voller
Überraschungen, von den Gärten her durchwachsen mit Flieder- und Birkenwurzeln.
Theo tritt vom Bürgersteig auf die Strasse, überquert sie, ohne den Kopf zu
heben und betritt den Gehweg zum Hochhaus. Jens und Axel schauen ihm entgegen,
dann blickt auch Kristof auf.
In der Faust hält Theo den dünnen Griff seiner Aktentasche. Er geht den Fußweg
am Sandkasten hoch, hält kaum wahrnehmbar inne, schwenkt unmittelbar vor den
Fahrrädern nach links auf den Rasen, geht hinter den Bänken entlang über die
Wiese.
"N' abend Theo" sagt Axel, Jens ruft "Hallo Theo". Theo schaut nicht auf,
antwortet nicht, geht geradeaus weiter, schaut auf seine Schuhe, die im kurz
geschnittenen Rasen einsinken und kehrt nicht mehr auf den Fußweg zurück.
Vielleicht hat Theo soeben etwas Neues entdeckt, einen Rasen, so, wie man
einen Kontinent entdeckt und dann erobert. Gut möglich, dass er morgen genauso
gehen wird, auch ohne Fahrräder: über das weiche Gras auf die dürftige
Rosenrabatte zu. Theo geht in sich versunken über den Rasen und der Rasen
wächst unter seinen Schuhen, wird eines Tages krautig und fleckig werden, bis
ihn der nächste Schnitt wieder weich und frisch macht und Theo weiß das.
Axel und Jens schauen wieder in den Sandkaste. Kristof sieht der Aktentasche
nach, die ist aus dunklem Narbenleder, altmodisch, und oben, wo die Klappe sie
wie ein Tunnel im Halbkreis verschließt, faserig und abgegriffen.
Kristof blickt der Tasche nach und Theo, mit dem niemand weiter spricht, nimmt
den Rasen in sich auf, während er schweigend darüber hin schreitet. Den Gruß
seiner Stiefkinder erwidert er nicht. Vielleicht ist seine Arbeit zu schwer.
Am Ende der Grünfläche angelangt, übersteigt Theo mit einem Schritt die
Rosenbüsche, die schmächtig, fast blattlos am Boden verkümmern. Zwischen den
heruntergetretenen Ästen stecken die Fetzen einer kleingemähten weißen
Kunststofftüte. Er überquert den Vorplatz der Kneipe, schlängelt sich zwischen
den Tischen und Stühlen hindurch, auf denen niemand sitzt. Er hört einen
lauten Knall vom Parkplatz, von den Garagen her, schaut aber nicht auf und
verschwindet in der offen stehenden Kneipentür.
Punkt viertel nach neun wird er dort wieder auftauchen und nach Hause
gehen, zu Martha Hellerich und den fünf Kindern.
Mit links zieht Herr Siedenbach das Garagentor herunter, das rasselnd und mit
einem abschließenden Knall die Stille unterbricht. Die Jungen blicken auf,
auch wenn sie das, was nun folgt, längst kennen. Siedenbach zelebriert jedes
mal das gleiche ritualisierte Verschließen der Garage und den gleichen Beifall
heischenden Gang nach Hause, so dass man ihm ganz gedankenverloren dabei
zusehen kann. Es ist schön, wenn etwas passiert, das harmlos ist, was die
Dinge belässt, wie sie sind: wenn etwas friedlich fließt.
Bei Herrn Siedenbach fließt alles. Alles fließt zu einer einzigen Bewegung
zusammen, die scheinbar nicht enden will. Herr Siedenbach ist Bewegung,
elegant, geschmeidig und routiniert.
Möglicherweise unterbricht er sich, wenn er schläft. Es ist ja schlecht
vorstellbar, dass er sich auch dann in Bewegung hält, möglicherweise weiß
seine Frau mehr, Frau Siedenbach, die nur zum Einkaufen das Haus verlässt. Die
Siedenbachs sind kinderlos.
Und so hatte Herrn Siedenbach viel Zeit, genau zweiundfünfzig Jahre, um
Bewegung zu üben. Siedenbach richtet sich aus gebeugter Haltung auf, die Akten,
Briefe, Seminareinladungen und Prospekte ordentlich unter dem rechten Arm
eingeklemmt und unten von der Hand umschlossen.
Mit der Linken lässt er den Griff des Garagentores los, greift in die
Jacketttasche, holt den umfangreichen Schlüsselbund hervor, der schon
vorbereitet in der Tasche auf diesen Moment wartete. Er greift den ersten
Schlüssel vor dem Schild, das dem Schlüsselbund ein offizielles Aussehen gibt,
und fädelt ihn sauber - alles in einer einzigen, sanft fließenden Bewegung -
in das Schloss ein. Er dreht den Schlüssel, dreht dabei selbst den Kopf über
die rechte Schulter hin zu seinem Publikum, den Hellerich-Bruchmann- Jungs und
Kristof, zieht den Schlüssel ab und geht ansatzlos in eine schlenkernde
Fortbewegung über. Man sieht ihm die Genugtuung über das gelungene Manöver an.
Nun wendet er sich auf dem rechten Absatz, diesmal etwas weiter als gewöhnlich.
Denn er hat mit einem Blick die Lage gepeilt und eingeschätzt. Die Fahrräder
verhindern den normalen Weg am Sandkasten vorbei: er wird über die Strasse
gehen müssen. Nun gut, warum nicht, das ist eine kleine Abwechslung. Den
Schlüsselbund hält er am leicht abgespreizten linken Arm, als sei derjenige
Teil des Bewegungsablaufes, der Hand und Arm betraf, beim Verschließen des
Tores eingefroren. Den Daumen hat er durch den Ring des Bundes gesteckt, den
er beiläufig, rhythmisch schüttelt. Die Schlüssel geben das Marschtempo an.
Siedenbach pfeift laut und unbekümmert "my bonny is over the ocean",
durchsetzt vom Geklimpere, während er trappsig-schlacksig wie eine Bimmelbahn
auf der Strasse vorüberzieht. Den gaffenden Jungs widmet er ein jugendliches
Nicken.
Frau Jedwitz steht auf dem Balkon und sieht der Siedenbachparade zu, es
klimpert bereits zu ihr herauf, bevor Siedenbach um die Hochhausecke herum ist.
Im selben Moment dringt ein zusätzliches Geräusch zu ihr her. Das muss aus der
Kneipe kommen. Sie kennt die Melodie, zwar nicht so gut wie "my bonny" - das
hört sie schließlich täglich, sofern sie zum richtigen Zeitpunkt auf dem
Balkon ist -, es ist "loosing my religion" von REM. Ihre Tochter hörte das vor
Jahren, als sie noch zu Hause wohnte. Frau Jedwitz denkt an die Wäsche und
ihre Tochter, will schon in die Wohnung um ein paar Handgriffe zu tun,
überlegt es sich aber noch einmal. Heike ist ja schon ausgezogen.
Wenn jemand darüber nachdenken würde, käme er zu dem Schluss, dass Theo nicht
allein in der Kneipe ist. Theo hört keine Musik, wenigstens weiß man davon
nichts, und Kunert, der Wirt, schon dreimal nicht. Nicht, wenn er nicht muss.
Siedenbach lässt sich von REM nicht beeindrucken und zieht weiter. Am Hochhaus
stehen fast alle Balkontüren auf, auch die Verandatüren der Reihenhäuser. Bei
Müllers hört man jetzt das wütende Klackern einer Schreibmaschine. Müller
schreibt Bettel- und Protestbriefe. Müller ist arbeitslos und läuft tags wie
nachts im Morgenmantel zu dem Briefkasten neben der Telefonzelle, die
Siedenbach gerade passiert.
Seidenbach sieht rechts die Äpfel am Baum der Mettlers, dahinter den
Kirschbaum von Spielhoffs, schon abgeerntet. Dann die schmucke Birke im
eigenen Garten und, noch weiter dahinter, die Buchen des Parks.
Vor dem Hochhaus, auf der Wiese, berührt der Schatten der westlichen Kastanie
den Sandkasten. Durch den Schatten der anderen klimpert Siedenbach, dann
überquert er die Strasse, die seit drei Jahren eine Einbahnstrasse und
beidseitig dicht zugeparkt ist. Seidenbach schlängelt sich an dem Fiesta
seiner Frau vorbei auf den Gehweg.
Sein Blick streift wohlwollend über die Gärten und er weiß, dass Blicke auch
auf ihn gerichtet sind. Die Jedwitz guckt wieder mal von ihrem Ansitz hinter
der geschmacklosen Plastikbrustwehr herunter, er nickt munter hinauf. Denn er
belohnt alle Blicke, die seinem Auftritt gelten. Blicke, die er aus den
dunklen Verandatüröffnungen und hinter Küchenfenstern ahnt, er belohnt sie mit
seinem Wohlwollen. Es riecht nach frisch geschnittenem Gras, und plötzlich
denkt er daran, dass er den Rasen schneiden müsste, das Klirren auf "bonny"
kommt etwas zu spät, er beschließt aber, das erst am Wochenende zu machen, und
schon liegt er wieder im Takt. Die Musik aus der Kneipe ist verhallt.
Kristof sieht die Sonne in den Speichen seines Fahrrads glitzern, das
Vorderrad dreht sich leicht im Wind. Ein Verpackungspapierchen, das mitsamt
einem Eishölzchen zwischen die Latten der Bank eingeklemmt ist, knistert. Axel
schaut auf, sieht das Papierchen zappeln und dahinter die Sonnenflecken im
Schatten der Kastanie. Er blickt verträumt.
Auch Frau Jedwitz sieht die glitzernden Speichen. Die Sonne ist längst hinter
der Ecke des Hochhauses verschwunden, hinter dem Geglitzer, das zu ihr
heraufzwinkert, dehnt sich der Hang hinab zur Vorstadt, von hier oben kann sie
alles weit überschauen.
Siedenbach nickt von unten herauf, sie nickt zurück, legt theatralisch die
Hand beschattend über die Augen, dabei ist hier, auf der Südostseite des
Hochhauses überall Schatten, und blickt über die mittlere Häuserreihe zum Wald.
Dahinten sieht sie das Altersheim, und etwas entfernter die Funkantennen des
Truppenübungsplatzes. Das Rauschen der Schnellstraße ist heute auch hier oben
im fünften Stock nicht so laut wie sonst. Siedenbach geht den Weg vor der
zweiten Häuserreihe entlang, grüßt nach links zur Veranda von Jakobs hinüber.
Siedenbach wohnt im sechsten Haus, direkt hinter dem Haus der Hellerichs.
Die Jungs sitzen immer noch im Sand, aber im Schatten werden sie nun unruhig.
Die Musik aus der Kneipe ist verklungen, auch Herr Siedenbach ist nicht mehr
zu hören, seit er zwischen den Häuserreihen verschwand. Sie stehen auf und
gehen unentschlossen auf die Fahrräder zu. In diesem Augenblick schwillt ein
neues Geräusch in die Luft, eine Art Pfeifen, sie blicken gleichzeitig in
Richtung der Garagen.
Frau Jedwitz hört ebenfalls das Pfeifen, das aus dem Pfeifen Siedenbachs
hervorzutreten scheint und schaut nach rechts. Sie sieht, dass die drei Jungs
wie auf Kommando den Kopf drehen und zu den Garagen blicken, die ihrem Blick
leider verborgen bleiben, weil sie hinter der Hochhausecke liegen.
Jens sieht das Ding am südwestlichen Eck der Siedlung auftauchen, es saust
über den Garagenanbau hinweg auf sie zu, überquert den Parkplatz, die Kastanie
und den Sandkasten. Es huscht hinüber zu den Reihenhäusern, die es mit einem
eleganten Hüpfer überspringt. Dann noch ein Hüpfer, hinauf über die Bäume im
Park, hinter deren Wipfeln es verschwindet.
Mit einem Mal, im selben Moment, als sich das Ding in das Blickfeld Frau
Jedwitzs schiebt, dringt ein schriller Lärm zu ihr, sie folgt ihm mit den
Augen und denkt: Oh Gott, und dass sie etwas tun müsse, denn das Leben muss
schließlich weiter gehen. Aber sie kann sich von dem Anblick nicht losreißen.
Frau Jedwitz sieht die hübschen Schlenker, als der weiße, dünne Körper in zwei
Stufen zunächst die Häuserzeile, dann den Waldrand erklimmt. Sie sieht die
weiße Röhre schnurgerade über die Wipfel weiter eilen und hinter dem Park,
links neben den Antennen, verschwinden. Frau Jedwitz bemerkt, dass der
Pfeifton abschwillt. Unten ist Siedenbach irgendwie an seiner Haustür erstarrt.
Siedenbach hat den Schlüssel im Schloss etwas verbogen, als er plötzlich, ganz
deutlich, etwas über sich spürte. Einen kreischenden Schemen, der sogleich
wieder über den Bäumen verschwand. Er drehte den Kopf nach links, entgegen der
Aufschließbewegung, die er gleichzeitig ausführte, mag sein, daran lag's. Der
Schlüssel geht nur schwer wieder aus dem Schloss heraus, aber den kann er
wieder grade biegen.
Er steht leicht gebückt vor seiner halb geöffneten Haustür. Eigentlich könnte
er auch klingeln, seine Frau ist sowieso immer zu Hause. Warum eigentlich
nicht, vielleicht würde sie sich ja freuen, ihm abends die Tür zu öffnen. Er
richtet sich auf und bemerkt an der rechten oberen Türecke einen hässlichen
Spinnweben. Den sieht er so deutlich, wie nur irgend etwas... wie er noch nie
etwas sah. Wie der Spinnweb dort baumelt im hellsten Licht. So gleißend, dass
es Siedenbachs Schatten, der zum erstenmal auf diese Tür fällt, auffrisst, von
den Rändern her zur Mitte. Herr Siedenbachs Schatten wird vollständig
aufgefressen.
Theo sitzt am Tresen und bemerkt, wie das Licht rechts durch die offen
stehende Tür hereinkommt, es kriecht etwas flackerig am Eingang herum und
huscht mit einem Satz zu ihm in den Schankraum. So, als würde ein blendendes
Weiß hereingekippt, in einem grellen Band zu ihm hingerollt. Auch hinter den
dunklen Butzenscheiben ist es mit einem Mal hell, unerträglich hell. Die Sonne
ist auf den Vorplatzes gefallen.
"n' Ufo" kreischt Jens in den Lärm hinein, Axel schüttelt den Kopf, "nee, 'ne
Rakete". Der Lärm lässt nach, dafür wird überm Wald der Himmel grünlich, dann
platzt eine gelbe Blase ins Grünliche hinein, die wird weiß und mächtig,
stürzt sich auf den Wald. Und der schrumpft. Der Wald wird zum Scherenschnitt,
helle Löcher brechen darin auf, werden groß und größer und fließen zusammen.
Axel dreht mit einer wilden, panischen Bewegung den Kopf und sieht Theo, der
auf dem Barhocker sitzt, auf einem Band schiersten Lichtes, und mit hellrosa
Blick zu ihm herglotzt, blinzelt und die Augen schließt.
Frau Jedwitz will eigentlich hineingehen, aber das geht jetzt nicht. Sie sieht
den Keim neben den Antennen, der wirft sein grelles Wachstum rasend über den
Park auf sie zu, saugt alle Farbe aus der Welt und zeigt die Dinge für
Sekundenbruchteile in einem ursprünglichen, eigentümlichen Schwarz. Das ist so
kümmerlich und nichts sagend ... und dann zerschmelzen die Dinge wie das Glas
in Theos Hand, aus dem das Bier verdampft.
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Kritiken zur KG „Siedenbachs Schatten“ (Erebus)
Margot:
„Siedenbachs Schatten“ / 2996 Wörter / erhalten 05.09.07
Stil, Bilder (Max. Punkte 10)
Sehr ausführlich mit genauen Details und Beschreibungen / Bilder werden deutlich projiziert und sind leicht nachzuvollziehen / heutiger Standart / flüssiger Schreibstil, den angenehm zu lesen ist / durch die akribischen Beschreibungen aber auch zum Teil etwas langatmig / Spannungsbogen fehlt, bzw. kommt er zu spät .. man lechzt geradezu danach, dass endlich etwas passiert / das Switchen zwischen den Protagonisten macht die Geschichte etwas sprunghaft / für meinen Geschmack zu viele Charaktere
Punkte 9
Idee, Innovation (Max. Punkte 10)
Vorstadt-Idylle und Atombombe = gefällt / die Jungen erinnern etwas an Kings ‚stand by me’ und automatisch bekommt man die Erwartungshaltung, dass bald eine Leiche auftaucht / die Charaktere sind liebevoll ausgeschmückt, werden dadurch aber auch etwas zu ausladend für eine KG (mehr mit Stereotypen arbeiten)
Punkte 9
Formale Gesichtspunkte (Max. Punkte 10)
Rechtschreibung gut mit gelegentlichen Flüchtigkeitsfehlern / Grammatik dito / Satzbau könnte etwas straffer sein. Verschachtelte Sätze vermeiden, damit Tempo entsteht / Sprache: einer KG angemessen (schlicht, wie die Menschen und das Geschehen) / ab und zu blitzen philosophische Sätze und Betrachtungen auf, die vermuten lassen, der Autor bemühe sich jetzt, literarisch zu sein (kann, muss aber nicht in eine KG) / Manko: keine Dialoge = wirkt daher zuweilen monoton / guter, offener Schluss, aber zu langer Einstieg / etwas zu umfangreich für eine KG, eher eine Novelle
Punkte 8
Total 26/ 8,6
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Arno Boldt:
Siedenbachs Schatten
Der Text ist zweifelsohne eine schwere Kost. Detailverliebt – möchte ich schon sagen – wechseln sich Beschreibungen zur Umgebung und Aneinanderreihungen von Namen ab. Letztere finden nicht wirklich zueinander, auch wenn einige Beziehungen aufgemacht werden. Der Text gibt dem Leser kaum Zeit, alles so schnell verarbeiten zu können – um sich letztlich auch ein Bild von der Szenerie machen zu können. Wäre es ein Roman oder längere Geschichte, könnte man sich auch die vielen Einstreuungen oder Details erlauben – aber auch dann nacheinander – immer mal wieder - und nicht in so einer Kompaktheit. Einige Sätze wankten auch ungelenk daher, manch andere Wortgruppen waren – in meinen Augen – überflüssig. Warum ich das hier so betone? Es zieht sich bis zu einem bestimmten Punkt, an dem ein Unbekanntes auftaucht. Die Hälfte des Textes ist schon passiert und ich – als Leser – hatte gehofft, dass jetzt der Moment der Schnelle kommt – bei dem nicht alles haargenau beschrieben werden soll. Wo die Langatmigkeit des Alltags in dieser Wohnsiedlung aufgebrochen wird - wo es heißt: RUMMS, PENG, PUFF. Doch leider änderte sich an der Schreibe fast nichts. Aber das alles soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eine Idee zugrunde liegt, die mir gefällt. Einige Alltäglichkeiten der Bewohner waren durchaus witzig und v.a. auch gut beobachtet; und man erkannte Einiges aus seiner eigenen Jugend wieder. Daher bekommt dieser Text für mich 5,7 Punkte.
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Fabian:
Siedenbachs Schatten
Sprache/Stil: 9/10
Inhalt/Idee: 7/10
Satzbau und Form: 9
Bewertung: 8,3
Platz 2
Kritik:
Sprachlich die beste Geschichte. Schon die Einleitung besticht durch schöne Bilder. Besonders gut gefallen mir die immer wieder eingeschobenen Vergleiche, die ebenfalls bildreich sind und das Ganze plastischer machen.
Bspl:
„Seine Schritte dringen wie ein gemächlich lauter werdendes, tackendes Metronom in den Nachmittag.“
Der duftende Rasenschnitt begleitet die Geschichte ebenso, wie die auf dem Weg liegenden Fahrräder und passt sich in das Gesamtbild der detailliert beschriebenen Szenerie einer trägen Stadt-Hochhaus-Wohnanlagenidylle.
Und hier liegt auch das Problem der Geschichte. Obwohl sie durchaus spielerisch und lesenswert dargestellt wird, bleibt es doch weitgehend oberflächlich und eine Identifizierung mit irgendeinem der Charaktere bleibt, für mich jedenfalls, aus. Keiner der Protagonisten ist liebenswert bzw. tritt so in Erscheinung, dass man sich mit ihm solidarisieren könnte. Dadurch verpufft der Knalleffekt am Ende im luftleeren Raum.
Ich hätte mir zumindest eine Person gewünscht, die ich vermissen könnte, wenn sie von einer Atomrakete weggeblasen würde. Die ist aber in der Geschichte nicht vorhanden.
Formal gilt auch hier, dass die Satzzeichen vor die letzten Gänsefüßchen kommen, wenn ein Satz mit der Direkten Rede endet.
Kleinere Fehler, wie „Sie kann die erschrocken Blicke kaum erwarten“, fallen kaum auf.
Fazit: Stilistisch und sprachlich sehr überzeugend, aber inhaltlich etwas zu steril.
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Platz4: "Strandhüttennacht" (Alcedo)
Den ersten Kuss, außerhalb ihres Gesichtes, hatte er auf ihren Solarplexus gesetzt. Sarah erzitterte dabei so heftig, dass er fast davon erschrak. Während sie sich mit raschen Atemzügen in ein motorisch aufgeregtes Verhalten hineinsteigerte, blieb er äußerlich dennoch ruhig und gelassen. Doch fast hätte er davon Abstand genommen, wenn nicht ihre fordernden Blicke gewesen wären. Als hätte sie eine Phobie vor Berührungen gehabt, welche sie sich zwang zu überwinden, so zitterte sie am ganzen Leibe. Was sie aber nicht hinderte, sich hastig, mit ungelenken Bewegungen ihrer Kleidung zu entledigen. Küsse vermochten sie überhaupt nicht zu beruhigen. Erst als sie sich beide ganz entkleidet hatten, und er den Scherz mit der Möwe brachte, löste sich beider Anspannung in schallendem Gelächter; hatte er doch spontan, ihr niedliches blondes Flaumknäuel sanft mit den Handflächen umfasst, es zärtlich mit Wangen und Nasenrücken gestreichelt und hineingeflüstert: „Keine Angst, kleine Möwe, dir geschieht schon nichts!“ Sie lachten dabei so befreiend und sich gegenseitig ansteckend, dass alle Hemmungen verflogen. Er sollte seinen Beschützungsversuch noch einige Mal wiederholen und sie streichelte es mit, das helle Flaumbüschel, und gluckste Sätze wie: „Keine Angst mein kleines Möwenküken, die Mama ist bei dir.“ Dabei schob sie seinen Kopf immer wieder zur Seite um das Küken ins Licht zu rücken, während er, mit Schattenspielen an der Bretterwand versuchte den Möwenflug nachzuahmen, möglichst kurz umherkreisend, um bald wieder an der berauschenden Stelle landen zu können.
Was hatten sie gelacht! Die nervöse Anspannung war einer verspielten Vertrautheit gewichen. Sie hatte angefangen zu sprechen, oder zu rufen und kommentierte bald jeden seiner weiteren Erkundungsküsse mit einer lauten Farbe: „Gelb, orange, rosé“ oder „Mint, mint, mint!“ dann wieder: Azur, hellblau, ... Hatte sie wirklich diese himmlischen Farben erwähnt? Nun, jedenfalls, die Stelle mit Bordeaux fand er am aufregendsten. Vor einem Höhepunkt hatte sie sich gar in ein „Ultra-ultra-ultra-“ - Crescendo hineingesungen mit einem gellenden „-vi-o-lett“ zum Abschluss, wobei sie das i und das o aufreizend lange modulierte.
Aber nicht diese wunderbare Farbenlehre war das Ungewöhnlichste gewesen. Er hatte immer gedacht, nichts könne ihn mehr überraschen: Sarah war rittlings auf ihm gesessen und was sie dabei anstellte, mit ihren langen Haaren! In seinen wildesten Vorstellungen hatte er so etwas noch nie durchgespielt! Diese Szenen waren ihm in die Augen gestürzt, beim flackernden Schein des Öldochtes, beim schweren Atmen ihrer Körper und bei der untrüglichen Gewissheit, dass sich Innen in ihm, sämtliche Eingeweide verknäuelt hatten vor Lust.
Wiederholt ließ er die Szenen vor seinem inneren Auge ablaufen. Nun lagen sie beide unter der alten sandigen Decke, wie zwei von der Brandung ausgemergelte Muschelschalen ineinander gestülpt. Sie schmiegte ihren schlanken, erschöpften Körper an den seinen, und er blickte über sie hinweg, zur Öllampe, die ihre gesamte nächtliche Zusammenkunft sinnlich beleuchtet hatte. Auf die Flamme starrend, küsste er sie im Rhythmus der Dünung auf die Schulter und da sie bei jedem Kuss, immer noch leise „grün, grün, grün“ gurrte, setzte er zu einem anzüglichen Schlaflied an:
Bei der zweiten Strophe hörte sie auf zu gurren, bei der dritten wurde er leiser, denn ihr zierlicher Fuß, der sich um seine Wade geschlungen hatte, glitt sacht in Tiefschlafstellung. Ihre Sohle bestrahlte warm sein Schienbein und er bewegte sich eine Winzigkeit um den Spalt wieder zu schließen. Schließlich hört er auch mit dem Summen auf, schloss die Augen und lauschte ihren regelmäßigen Atemzügen.
Noch ein letzter Blick, über ihre weiche Schulter, zum flackernden Öllicht hin, ein Vergewissern, das dies alles wirklich gewesen war, ein tiefer Atemzug, aus der Wärme und Haarpracht ihres Nackens - und nie zuvor war er mit so einem tiefen, erfüllenden Glücksgefühl eingeschlafen.
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Kritiken zur KG „Strandhüttennacht“ (Alcedo)
Margot:
„Strandhüttennacht“ / 649 Wörter / erhalten 15.09.07
Stil, Bilder (Max. Punkte 10)
Guter Einstig = mitten im Geschehen und baut Spannung auf / hätte mir die Ich-Form gewünscht / flüssige Schreibweise / philosophische Betrachtungen des Protagonisten sind angenehm verpackt aber etwas zu enthusiastisch / Bilder der Szene (inkl. der Örtlichkeit) stellen sich ein
Punkte 8
Idee, Innovation (Max. Punkte 10)
Die Idee mit den Kosenamen, den Farben und dem Gedicht ist originell, aber auch etwas exzentrisch / das Erotik-Thema wird zwar mit Fingerspitzengefühl behandelt, jedoch kann das – vom Protagonisten gefühlte Ungewöhnliche (Haarsache, Rittlingsstellung) - den Spannungsbogen nicht tragen, bzw. wirkt es etwas altbacken
Punkte 7
Formale Gesichtspunkte (Max. Punkte 10)
Korrekte Rechtschreibung und Grammatik / etwas zu blumige Sprache / recht kurz
Punkte 8
Total 23 / 7,6
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Arno Boldt
Strandhüttennacht
Die Idee, eine Strandhüttennacht zu beschreiben - und nur diese - scheint auf den ersten Blick etwas wenig zu sein, um für eine Kurzgeschichte taugen zu können. Die Umsetzung lässt hier aber kaum Wünsche offen. Sie ist schnell gelesen, dafür aber äußerst eindringlich. Das „Schlaflied“ hat da ebenso hervorragend reingepasst. Es ist – man kann es so sagen – ein einziger kleiner „Höhepunkt“. Was mir hier jedoch etwas fehlt, sind Rückblicke oder Charakterisierungen der Personen, die das Zusammentreffen in der Hütte in deren jeweiligem Leben verorten lassen. Dann wäre die Geschichte – in meinen Augen – runder geworden. Oder auch der Teilsatz: „und was sie dabei anstellte, mit ihren langen Haaren“ – ja, was stellte sie mit ihnen an? Etwas mehr Beschreibung, ja, das fehlte mir hier. Ich kann jedoch nachvollziehen, dass man befürchtet, durch zu viele Details die Erotik, den Moment der Innigkeit im Kopf des Lesers zu zerstören – aber zu wenig birgt dieselbe Gefahr. Aber nichtsdestoweniger bekommste verdiente 7 Punkte.
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Fabian:
Strandhüttennacht
Sprache/Stil: 8/10
Inhalt/Idee: 7/10
Satzbau und Form: 8/10
Bewertung: 7,6
Platz 4
Kritik:
Viel gibt es hier nicht zu sagen.
Diese Geschichte steigert sich in allen Punkten. Wirkte sie auf mich ganz am Anfang noch etwas unbeholfen, wird spätestens mit Beginn des zweiten Absatzes eine lesenswerte und liebevolle Erzählung daraus.
Inhaltlich keine Innovation, aber durch die Verspieltheit der Protagonisten durchaus interessant.
Als ich den Satz mit der "Möwe" las, wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Auf jeden Fall erfindungsreich, wenn auch geschmacklich eher polarisierend. Ich tippte sofort auf eine AutoRIN.
Auch die "Farbenlehre" verstärkte diese Vermutung und wirkte im ersten Moment eher befremdlich auf mich. Nachdem ich die Geschichte ganz gelesen hatte, das ganze Bild zusammensetzte, empfand ich es aber als stimmig.
Eher eine Geschichte, die den weiblichen Lesern gefallen könnte. Aber das ist nur eine Vermutung.
Formal hätte man noch ein bis zwei Absätze einbauen und auf die Leerzeilen verzichten sollen. Ansonsten, bis auf den Anfang, flüssig und gut geschrieben.
Fazit: Wie schon erwähnt eine liebevolle kurze Erzählung einer Zusammenkunft zweier Menschen, die sich gut lesen lässt.
Nicht mehr und nicht weniger.
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[zurück zur Gesamtbewertung]
Den ersten Kuss, außerhalb ihres Gesichtes, hatte er auf ihren Solarplexus gesetzt. Sarah erzitterte dabei so heftig, dass er fast davon erschrak. Während sie sich mit raschen Atemzügen in ein motorisch aufgeregtes Verhalten hineinsteigerte, blieb er äußerlich dennoch ruhig und gelassen. Doch fast hätte er davon Abstand genommen, wenn nicht ihre fordernden Blicke gewesen wären. Als hätte sie eine Phobie vor Berührungen gehabt, welche sie sich zwang zu überwinden, so zitterte sie am ganzen Leibe. Was sie aber nicht hinderte, sich hastig, mit ungelenken Bewegungen ihrer Kleidung zu entledigen. Küsse vermochten sie überhaupt nicht zu beruhigen. Erst als sie sich beide ganz entkleidet hatten, und er den Scherz mit der Möwe brachte, löste sich beider Anspannung in schallendem Gelächter; hatte er doch spontan, ihr niedliches blondes Flaumknäuel sanft mit den Handflächen umfasst, es zärtlich mit Wangen und Nasenrücken gestreichelt und hineingeflüstert: „Keine Angst, kleine Möwe, dir geschieht schon nichts!“ Sie lachten dabei so befreiend und sich gegenseitig ansteckend, dass alle Hemmungen verflogen. Er sollte seinen Beschützungsversuch noch einige Mal wiederholen und sie streichelte es mit, das helle Flaumbüschel, und gluckste Sätze wie: „Keine Angst mein kleines Möwenküken, die Mama ist bei dir.“ Dabei schob sie seinen Kopf immer wieder zur Seite um das Küken ins Licht zu rücken, während er, mit Schattenspielen an der Bretterwand versuchte den Möwenflug nachzuahmen, möglichst kurz umherkreisend, um bald wieder an der berauschenden Stelle landen zu können.
Was hatten sie gelacht! Die nervöse Anspannung war einer verspielten Vertrautheit gewichen. Sie hatte angefangen zu sprechen, oder zu rufen und kommentierte bald jeden seiner weiteren Erkundungsküsse mit einer lauten Farbe: „Gelb, orange, rosé“ oder „Mint, mint, mint!“ dann wieder: Azur, hellblau, ... Hatte sie wirklich diese himmlischen Farben erwähnt? Nun, jedenfalls, die Stelle mit Bordeaux fand er am aufregendsten. Vor einem Höhepunkt hatte sie sich gar in ein „Ultra-ultra-ultra-“ - Crescendo hineingesungen mit einem gellenden „-vi-o-lett“ zum Abschluss, wobei sie das i und das o aufreizend lange modulierte.
Aber nicht diese wunderbare Farbenlehre war das Ungewöhnlichste gewesen. Er hatte immer gedacht, nichts könne ihn mehr überraschen: Sarah war rittlings auf ihm gesessen und was sie dabei anstellte, mit ihren langen Haaren! In seinen wildesten Vorstellungen hatte er so etwas noch nie durchgespielt! Diese Szenen waren ihm in die Augen gestürzt, beim flackernden Schein des Öldochtes, beim schweren Atmen ihrer Körper und bei der untrüglichen Gewissheit, dass sich Innen in ihm, sämtliche Eingeweide verknäuelt hatten vor Lust.
Wiederholt ließ er die Szenen vor seinem inneren Auge ablaufen. Nun lagen sie beide unter der alten sandigen Decke, wie zwei von der Brandung ausgemergelte Muschelschalen ineinander gestülpt. Sie schmiegte ihren schlanken, erschöpften Körper an den seinen, und er blickte über sie hinweg, zur Öllampe, die ihre gesamte nächtliche Zusammenkunft sinnlich beleuchtet hatte. Auf die Flamme starrend, küsste er sie im Rhythmus der Dünung auf die Schulter und da sie bei jedem Kuss, immer noch leise „grün, grün, grün“ gurrte, setzte er zu einem anzüglichen Schlaflied an:
„Im hellblonden Port
des Wikingerheeres,
da liegt ein Korsar
des Schwarzwälder Meeres.
Sein blutiges Krummschwert
ankert im Hafen
und hindert die helle
Möwe beim schlafen.
Es steigen die Möwen,
es wogen die Fluten,
es beißen die Salze,
die Sehnsüchte bluten:
schlaf blonde Möwe,
schlaf in den Wellen,
schlaf meine Möwe,
schlaf in den Wellen ...“
des Wikingerheeres,
da liegt ein Korsar
des Schwarzwälder Meeres.
Sein blutiges Krummschwert
ankert im Hafen
und hindert die helle
Möwe beim schlafen.
Es steigen die Möwen,
es wogen die Fluten,
es beißen die Salze,
die Sehnsüchte bluten:
schlaf blonde Möwe,
schlaf in den Wellen,
schlaf meine Möwe,
schlaf in den Wellen ...“
Bei der zweiten Strophe hörte sie auf zu gurren, bei der dritten wurde er leiser, denn ihr zierlicher Fuß, der sich um seine Wade geschlungen hatte, glitt sacht in Tiefschlafstellung. Ihre Sohle bestrahlte warm sein Schienbein und er bewegte sich eine Winzigkeit um den Spalt wieder zu schließen. Schließlich hört er auch mit dem Summen auf, schloss die Augen und lauschte ihren regelmäßigen Atemzügen.
Noch ein letzter Blick, über ihre weiche Schulter, zum flackernden Öllicht hin, ein Vergewissern, das dies alles wirklich gewesen war, ein tiefer Atemzug, aus der Wärme und Haarpracht ihres Nackens - und nie zuvor war er mit so einem tiefen, erfüllenden Glücksgefühl eingeschlafen.
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Kritiken zur KG „Strandhüttennacht“ (Alcedo)
Margot:
„Strandhüttennacht“ / 649 Wörter / erhalten 15.09.07
Stil, Bilder (Max. Punkte 10)
Guter Einstig = mitten im Geschehen und baut Spannung auf / hätte mir die Ich-Form gewünscht / flüssige Schreibweise / philosophische Betrachtungen des Protagonisten sind angenehm verpackt aber etwas zu enthusiastisch / Bilder der Szene (inkl. der Örtlichkeit) stellen sich ein
Punkte 8
Idee, Innovation (Max. Punkte 10)
Die Idee mit den Kosenamen, den Farben und dem Gedicht ist originell, aber auch etwas exzentrisch / das Erotik-Thema wird zwar mit Fingerspitzengefühl behandelt, jedoch kann das – vom Protagonisten gefühlte Ungewöhnliche (Haarsache, Rittlingsstellung) - den Spannungsbogen nicht tragen, bzw. wirkt es etwas altbacken
Punkte 7
Formale Gesichtspunkte (Max. Punkte 10)
Korrekte Rechtschreibung und Grammatik / etwas zu blumige Sprache / recht kurz
Punkte 8
Total 23 / 7,6
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Arno Boldt
Strandhüttennacht
Die Idee, eine Strandhüttennacht zu beschreiben - und nur diese - scheint auf den ersten Blick etwas wenig zu sein, um für eine Kurzgeschichte taugen zu können. Die Umsetzung lässt hier aber kaum Wünsche offen. Sie ist schnell gelesen, dafür aber äußerst eindringlich. Das „Schlaflied“ hat da ebenso hervorragend reingepasst. Es ist – man kann es so sagen – ein einziger kleiner „Höhepunkt“. Was mir hier jedoch etwas fehlt, sind Rückblicke oder Charakterisierungen der Personen, die das Zusammentreffen in der Hütte in deren jeweiligem Leben verorten lassen. Dann wäre die Geschichte – in meinen Augen – runder geworden. Oder auch der Teilsatz: „und was sie dabei anstellte, mit ihren langen Haaren“ – ja, was stellte sie mit ihnen an? Etwas mehr Beschreibung, ja, das fehlte mir hier. Ich kann jedoch nachvollziehen, dass man befürchtet, durch zu viele Details die Erotik, den Moment der Innigkeit im Kopf des Lesers zu zerstören – aber zu wenig birgt dieselbe Gefahr. Aber nichtsdestoweniger bekommste verdiente 7 Punkte.
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Fabian:
Strandhüttennacht
Sprache/Stil: 8/10
Inhalt/Idee: 7/10
Satzbau und Form: 8/10
Bewertung: 7,6
Platz 4
Kritik:
Viel gibt es hier nicht zu sagen.
Diese Geschichte steigert sich in allen Punkten. Wirkte sie auf mich ganz am Anfang noch etwas unbeholfen, wird spätestens mit Beginn des zweiten Absatzes eine lesenswerte und liebevolle Erzählung daraus.
Inhaltlich keine Innovation, aber durch die Verspieltheit der Protagonisten durchaus interessant.
Als ich den Satz mit der "Möwe" las, wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Auf jeden Fall erfindungsreich, wenn auch geschmacklich eher polarisierend. Ich tippte sofort auf eine AutoRIN.
Auch die "Farbenlehre" verstärkte diese Vermutung und wirkte im ersten Moment eher befremdlich auf mich. Nachdem ich die Geschichte ganz gelesen hatte, das ganze Bild zusammensetzte, empfand ich es aber als stimmig.
Eher eine Geschichte, die den weiblichen Lesern gefallen könnte. Aber das ist nur eine Vermutung.
Formal hätte man noch ein bis zwei Absätze einbauen und auf die Leerzeilen verzichten sollen. Ansonsten, bis auf den Anfang, flüssig und gut geschrieben.
Fazit: Wie schon erwähnt eine liebevolle kurze Erzählung einer Zusammenkunft zweier Menschen, die sich gut lesen lässt.
Nicht mehr und nicht weniger.
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Platz 5: "Alle Menschen wollen glücklich sein" (Don Carvalho)
Das Telegramm war bereits völlig zerknittert, so oft hatte er es nun gelesen, und noch immer fühlte er sich bei diesen Zeilen hundeelend. Immerhin konnte er jedoch dem anfänglichen Brechreiz widerstehen und musste nur noch ein leichtes Würgen unterdrücken, das nunmehr mit einem dezenten Schwindelgefühl einherging.
„Mach einfach Schluss“, war sein erster Gedanke gewesen, als er das Telegramm mit zitternden Händen geöffnet hatte und ihm die bunt blinkenden Buchstaben entgegen sprangen. Begleitet wurde die Lektüre des kurzen Textes von einer fiepsig - elektronischen Marschmusik, die er schon oft im Fernsehen in Reportagen gehört hatte. Der Komponist dieser armseligen Tonfolge war inzwischen Multimillionär – und dies nur, weil sie in diesem Telegramm Verwendung fand.
Nicht, dass er nicht stets nach einem glücklichen Leben gestrebt hätte und sich bemühte, dieses in Vollkommenheit zu erreichen – doch dass ihm das tatsächlich, wenn auch nur für einen Tag, gelungen sein sollte, ängstigte ihn auf eine für ihn selbst schwer verständliche Weise. Sein Streben nach dem vollkommenen Glück war also von Erfolg gekrönt gewesen, und zwar am 08.05. des letzten Jahres! Aber so sehr er es auch versuchte: er konnte sich einfach nicht daran erinnern, was er an diesem Tag überhaupt getan hatte.
Natürlich hatte er dieses Datum als erstes anhand seines alten Kalenders überprüft (man hätte meinen können, dass sich hier einmal sein ausgeprägter Hang zur Schluderei auszahlen würde, fand sich – immerhin war es bereits März – sein alter Kalender doch noch immer im Papiermüll hinter der Küchentür; doch wie immer zahlte sich nichts aus). Ein Dienstag. Namenstag hatten Ida und Friedrich, soso. Darunter ließ Laotse noch eine seiner Weisheiten mitteilen: „Nichtstun ist besser als mit aller Mühe nichts schaffen“. Das passte schon irgendwie zu ihm, wirklich hilfreich war es aber nicht. Ansonsten gab es keinen Eintrag, weder ein Geburtstag noch eine amouröse Verabredung waren notiert. Selbst ein Zahnarzttermin wäre ihm an diesem Datum lieb gewesen, hätte er sich womöglich auf diese Weise wenigstens den Tagesablauf in Erinnerung rufen und so dem Grund seines unverschämten Glücks auf die Spur kommen können.
Vielleicht war er an diesem Tag aber auch nur der glücklichste Mensch, nicht weil er so absonderlich glücklich, sondern weil alle anderen Menschen dieser Erde unglücklicher gewesen waren. Womöglich war etwas passiert, eine Katastrophe globalen Ausmaßes, die ihm entgangen war. Oder der grausame Tod einer Berühmtheit, ein verheerender Brand in einer Altenverwahranstalt, gar der unerwartete Beginn eines Krieges? Er zog seinen Laptop unter einem Haufen dreckiger Teller auf dem Küchentisch hervor und aktivierte ihn. Schnell war er auf die staatliche Nachrichtenseite gesurft und klickte sich durch die verschiedenen Menüs auf die News vom Tage des 08.Mai.
Ein Tornado war durch Paris gefegt und hatte neben 12 Todesopfern einen Sachschaden in Millionenhöhe verursacht. Naja. Seine Augen sprangen unruhig über die Schlagzeilen: Massenentlassungen bei Globalnetworld, unerwarteter Regierungswechsel in der Panamerikanischen Union, Verseuchung von Trinkwasserreserven bei Venedig... sicher nichts, was einen frohlocken lässt, aber leider auch keine Erklärung für ein weltumspannendes Unglücksgefühl. Als er in den Kurzmitteilungen entdeckte, dass es tatsächlich einen verhängnisvollen Brand in einer Altenverwahranstalt in Passau gegeben hatte, konnte er sich ein kurzes Grinsen nicht verkneifen. Dennoch: all das hier nachzulesende Unglück des 08.05. war leider nicht geeignet, sein eigenes Glück zu erklären.
Er wollte gerade das Notebook frustriert ausschalten (heute war er sicher kein Kandidat in dieser dämlichen Glücklichkeitserhebung), als er auf der Hauptseite des Newsblogs die Überschrift las: „Heute die glücklichsten Menschen des letzten Jahres bekannt gegeben“. In dem Wissen, dass sich seine schlechten Vorahnungen regelmäßig bestätigten, öffnete er den Artikel für den 08.-Mai-Sieger. Groß, fast das gesamte obere rechte Viertel ausfüllend stürzte sich dem Leser ein Bild von ihm in die Fotorezeptoren; eine etwa 12 Jahre alte Aufnahme von ihm – eigentlich für längst gescheiterte Bewerbungen geschossen - bei der er ein bezaubernd dämliches Lächeln offenbarte, das sogar von seiner grün blinkenden Krawatte abzulenken vermochte. „Da habt ihr euch ja genau das richtige Foto ausgesucht“, knurrte er den Bildschirm an, dabei hatte er sein noch 10 Jahre älteres Führerscheinfoto auf Seite 2 des Artikels noch gar nicht gesehen. Mit einem mulmigen Gefühl überflog er den Text. Sie hatten unangenehm präzise Arbeit beim Verfassen des Artikels geleistet: ausführlich wurde sein Werdegang ausgebreitet, mit dem Elternhaus beginnend über sein schulisches Versagen bis hin zu seinem unbefriedigenden Arbeitsleben und seiner gescheiterten Ehe. Darin ähnelte die Abhandlung vielen Berichten dieser Art und er hatte sich schon oft über die Versager lustig gemacht, die – warum auch immer – an einem Tag in ihrem Leben dann doch das große Los gezogen hatten. Die Zusammenfassung seines eigenen Unvermögens flimmernd auf dem Bildschirm vor Augen geführt zu bekommen, war allerdings erheblich weniger amüsant. Das schlimmste jedoch war, dass sich im gesamten Text nicht ein Hinweis für den Grund seiner Auserwählung finden ließ.
Er wusste, was als nächstes kommen würde. Bald schon würde sein Videophon nicht mehr still stehen und vor der Tür würde sich die Lokalpresse versammeln. Mit allen möglichen Tricks würde man versuchen, sein Leben bis ins letzte Detail ans Licht zu bringen, Glücksjäger würden ihm die Hand schütteln wollen und vergessene Bekannte zu besten Freunden mutieren, um an seinem kurzlebigen Glanz teilhaben zu können. Doch auf die entscheidende Frage, der er sich bald fortwährend ausgesetzt sehen würde - was denn sein besonderes Glück ausmache - hatte er keine Ahnung. Peinlich.
Und wenn er einfach untertauchte und sich ein paar Monate irgendwo versteckte? Doch ohne die geeigneten finanziellen Mittel waren die Möglichkeiten begrenzt. Und er wollte nicht, wie einer der glücklichsten Menschen vor einigen Jahren, schließlich verwahrlost in der Kanalisation aufgespürt werden. Diese Art Stories blieben den Leuten noch mehr in Erinnerung als ein langweiliger, erfolgloser Glücksmensch. Vielleicht ließ sich aber aus der Sache sogar etwas Kapital schlagen, er brauchte nur eine gute Geschichte seines Glückstages, etwas, was ihn für die Werbung oder für Spielshows interessant machte. Dabei musste er aber sehr vorsichtig vorgehen, denn es wäre verheerend, wenn schließlich herauskäme, dass er sich den Ablauf des besagten Tages nur ausgedacht hatte. Er brauchte nicht beweisbares Glück, ohne nachprüfbare Zeugen! Und er würde darauf achten müssen, sich mit seinen Erlebnissen für die Zukunft nicht in einer bestimmten Schublade wieder zu finden. Er erinnerte sich noch gut daran, wie einer der Glücklichen, der mit ausschweifenden amourösen Abenteuern auf sich aufmerksam gemacht hatte, letztlich als Werbeträger für ausgefallenes Sexspielzeug endete und sich in schlüpfrigen Fernsehshows mit abgehalfterten Prominenten maß.
In diesem Augenblick klingelte es schon und er hörte auf dem Hausflur Stimmen. Kurz darauf machte auch sein Videophon blinkend und summend auf sich aufmerksam. Für eine Flucht war es nun ohnehin zu spät. Er würde improvisieren müssen.
Seufzend erhob er sich und ging zur Tür.
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Kritiken zur KG „Alle Menschen wollen glücklich sein“ (Don Carvalho)
Margot:
„Alle Menschen wollen glücklich sein“ / 1158 Wörter / erhalten 15.09.07
Stil, Bilder (Max. Punkte 10)
Flüssige, emotionsgeladene Schreibweise mit guten Pointen und Sprachwitz / hätte auch hier die Ich-Form gewählt / die Identifikation mit dem Protagonisten funktioniert (Suche nach Glück)/ origineller Einstieg, der den Spannungsbogen sofort aufbaut / lakonische Sprache passt zum Protagonisten und Thema / ausgearbeitete und nachvollziehbare Gedankengänge
Punkte 9
Idee, Innovation (Max. Punkte 10)
Originelle und innovative Idee! Gefällt mir sehr gut.
Punkte 10
Formale Gesichtspunkte (Max. Punkte 10)
Rechtschreibung und Grammatik korrekt / gut strukturiert mit passender Länge / ausgezeichneter, offener Schluss (man überlegt sich ein mögliches Weitergehen und wird nicht darüber aufgeklärt, was ihn denn jetzt wirklich zum Preisträger gemacht hat)
Punkte 10
Total 29 / 9,6
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Arno:
Alle Menschen wollen glücklich sein
Die Idee an und für sich finde ich nicht schlecht. Erinnert mich ein wenig immer an den Film „I heart Huckebees“ – in dem es im Grunde auch um Glück ging. Jedoch überzeugte mich die Umsetzung hier nicht. Die Sätze wirken manchmal ungelenk, weshalb sie kaum Spannung aufbauen können. Hinzu kommen leichte Missgriffe wie „Er brauchte nicht beweisbares Glück…“. Besser wäre z.B. „Er brauchte nicht nachweisbares Glück/ nicht-beweisbares Glück oder kein beweisbares Glück“. Der Seitenhieb in Richtung sich selbst beweihräuchernden B-F-Prominenten blieb auch hier leider nur ein seichter Augenblick. Wenn, dann richtig. So wirkt es – verzeih mir: glücklos. Hinzu kommt die Frage: Warum sollte man nach fast einem Jahr auf das Glück des 8.Mai aufmerksam werden? Der Text kennt keine Antwort. Manchmal kann man Texte lesen, die so abstruse Gedanken beherbergen (vgl. auch z.B. „Being John Malkovich“), dass man bestimmte Dinge nicht hinterfragt, weil der Text sehr gut damit arbeitet. Hier ist es leider nicht der Fall. Idee gut, aber wie gesagt, die Umsetzung überzeugte mich nicht. Daher gebe ich dir insgesamt 4,3 Punkte.
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Fabian:
Alle Menschen wollen glücklich sein
Sprache/Stil: 7,5/10
Inhalt/Idee: 8/10
Satzbau und Form: 7/10
Bewertung: 7,5
Platz 5
Täusche ich mich, oder ist das die dritte Geschichte von ein und demselben Autor?
Eine nette Idee, aus der man etwas mehr hätte machen können. Leider bleibt hier vieles im Ansatz stecken, zu viele Fragen offen.
Schon der Titel wirkt etwas unglücklich! Klingt nach schlechtem Schlager.
Was ist eigentlich Glück? Wer bestimmt, was Glück ist und wer beurteilt, wer glücklicher ist als andere? Und was lässt sich aus dem machen, was man hat, wenn man schon mal dazu verdammt ist, glücklich zu sein? Ein interessanter Ansatz, wie gesagt, aber warum nicht ein paar mehr Informationen? Wann spielt diese Geschichte? In welcher Gesellschaft und wie zum Teufel haben die das errechnet, dass am 08. Mai letzten Jahres gerade unser Protagonist gefälligst hätte glücklich sein müssen?
Der Anfang lässt hoffen, dass sich das klärt, liest man die Fußnote des Telegrams:
*bezogen auf den Tagesmittelwert und bereinigt
von durch Fremdstoffe oder psychische
Störungen verursachte Emotionen“
Doch danach nichts mehr von solch hochgestochenen Fachtermini. Es bleibt völlig unklar, wieso es überhaupt eine solche Erhebung gibt.
Am Ende wäre mir eine deutlichere Wende lieber gewesen. X hätte sich besser fühlen, aus den Gegebenheiten heraus tatsächlich Mut und so etwas wie Glücksempfinden entwickeln sollen. Einen Plan, richtig abzukassieren und ein Star zu werden, oder so was in der Richtung. Dann wäre es runder gewesen.
Trotzdem ist diese Geschichte keineswegs gänzlich schlecht. Allein die Idee der Umkehrung der Mechanismen, die zu Glück führen, ist eigentlich sehr interessant. X fühlt sich eigentlich hundeelend, aber weil man ihm sagt, er hätte Glück gehabt, versucht er schließlich, daraus Kapital zu schlagen.
Sprachlich in Ordnung. Aufgrund der Kürze leichte Abstriche. Formal ein paar kleine Fehler. Endet ein Satz mit Direkter Rede, setzt man das Satzzeichen vor das letzte Gänsefüßchen.
Fazit: Ausbaufähig, aber mit gutem und interessantem Grundgedanken.
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(Aristoteles)
Herzlichen Glückwunsch!
Die Auswertung der vergangenen 365 Tage hat ergeben, dass Sie am
08. Mai des letzten Jahres
der glücklichste Mensch auf der Welt waren*.
Wir hoffen, dass Sie diesen Tag genossen haben und wünschen Ihnen noch alles Gute für Ihre weitere Zukunft.
Institut für Lebensalltagserforschung, Mailand
Herzlichen Glückwunsch!
Die Auswertung der vergangenen 365 Tage hat ergeben, dass Sie am
08. Mai des letzten Jahres
der glücklichste Mensch auf der Welt waren*.
Wir hoffen, dass Sie diesen Tag genossen haben und wünschen Ihnen noch alles Gute für Ihre weitere Zukunft.
Institut für Lebensalltagserforschung, Mailand
*bezogen auf den Tagesmittelwert und bereinigt
von durch Fremdstoffe oder psychische
Störungen verursachte Emotionen
von durch Fremdstoffe oder psychische
Störungen verursachte Emotionen
Das Telegramm war bereits völlig zerknittert, so oft hatte er es nun gelesen, und noch immer fühlte er sich bei diesen Zeilen hundeelend. Immerhin konnte er jedoch dem anfänglichen Brechreiz widerstehen und musste nur noch ein leichtes Würgen unterdrücken, das nunmehr mit einem dezenten Schwindelgefühl einherging.
„Mach einfach Schluss“, war sein erster Gedanke gewesen, als er das Telegramm mit zitternden Händen geöffnet hatte und ihm die bunt blinkenden Buchstaben entgegen sprangen. Begleitet wurde die Lektüre des kurzen Textes von einer fiepsig - elektronischen Marschmusik, die er schon oft im Fernsehen in Reportagen gehört hatte. Der Komponist dieser armseligen Tonfolge war inzwischen Multimillionär – und dies nur, weil sie in diesem Telegramm Verwendung fand.
Nicht, dass er nicht stets nach einem glücklichen Leben gestrebt hätte und sich bemühte, dieses in Vollkommenheit zu erreichen – doch dass ihm das tatsächlich, wenn auch nur für einen Tag, gelungen sein sollte, ängstigte ihn auf eine für ihn selbst schwer verständliche Weise. Sein Streben nach dem vollkommenen Glück war also von Erfolg gekrönt gewesen, und zwar am 08.05. des letzten Jahres! Aber so sehr er es auch versuchte: er konnte sich einfach nicht daran erinnern, was er an diesem Tag überhaupt getan hatte.
Natürlich hatte er dieses Datum als erstes anhand seines alten Kalenders überprüft (man hätte meinen können, dass sich hier einmal sein ausgeprägter Hang zur Schluderei auszahlen würde, fand sich – immerhin war es bereits März – sein alter Kalender doch noch immer im Papiermüll hinter der Küchentür; doch wie immer zahlte sich nichts aus). Ein Dienstag. Namenstag hatten Ida und Friedrich, soso. Darunter ließ Laotse noch eine seiner Weisheiten mitteilen: „Nichtstun ist besser als mit aller Mühe nichts schaffen“. Das passte schon irgendwie zu ihm, wirklich hilfreich war es aber nicht. Ansonsten gab es keinen Eintrag, weder ein Geburtstag noch eine amouröse Verabredung waren notiert. Selbst ein Zahnarzttermin wäre ihm an diesem Datum lieb gewesen, hätte er sich womöglich auf diese Weise wenigstens den Tagesablauf in Erinnerung rufen und so dem Grund seines unverschämten Glücks auf die Spur kommen können.
Vielleicht war er an diesem Tag aber auch nur der glücklichste Mensch, nicht weil er so absonderlich glücklich, sondern weil alle anderen Menschen dieser Erde unglücklicher gewesen waren. Womöglich war etwas passiert, eine Katastrophe globalen Ausmaßes, die ihm entgangen war. Oder der grausame Tod einer Berühmtheit, ein verheerender Brand in einer Altenverwahranstalt, gar der unerwartete Beginn eines Krieges? Er zog seinen Laptop unter einem Haufen dreckiger Teller auf dem Küchentisch hervor und aktivierte ihn. Schnell war er auf die staatliche Nachrichtenseite gesurft und klickte sich durch die verschiedenen Menüs auf die News vom Tage des 08.Mai.
Ein Tornado war durch Paris gefegt und hatte neben 12 Todesopfern einen Sachschaden in Millionenhöhe verursacht. Naja. Seine Augen sprangen unruhig über die Schlagzeilen: Massenentlassungen bei Globalnetworld, unerwarteter Regierungswechsel in der Panamerikanischen Union, Verseuchung von Trinkwasserreserven bei Venedig... sicher nichts, was einen frohlocken lässt, aber leider auch keine Erklärung für ein weltumspannendes Unglücksgefühl. Als er in den Kurzmitteilungen entdeckte, dass es tatsächlich einen verhängnisvollen Brand in einer Altenverwahranstalt in Passau gegeben hatte, konnte er sich ein kurzes Grinsen nicht verkneifen. Dennoch: all das hier nachzulesende Unglück des 08.05. war leider nicht geeignet, sein eigenes Glück zu erklären.
Er wollte gerade das Notebook frustriert ausschalten (heute war er sicher kein Kandidat in dieser dämlichen Glücklichkeitserhebung), als er auf der Hauptseite des Newsblogs die Überschrift las: „Heute die glücklichsten Menschen des letzten Jahres bekannt gegeben“. In dem Wissen, dass sich seine schlechten Vorahnungen regelmäßig bestätigten, öffnete er den Artikel für den 08.-Mai-Sieger. Groß, fast das gesamte obere rechte Viertel ausfüllend stürzte sich dem Leser ein Bild von ihm in die Fotorezeptoren; eine etwa 12 Jahre alte Aufnahme von ihm – eigentlich für längst gescheiterte Bewerbungen geschossen - bei der er ein bezaubernd dämliches Lächeln offenbarte, das sogar von seiner grün blinkenden Krawatte abzulenken vermochte. „Da habt ihr euch ja genau das richtige Foto ausgesucht“, knurrte er den Bildschirm an, dabei hatte er sein noch 10 Jahre älteres Führerscheinfoto auf Seite 2 des Artikels noch gar nicht gesehen. Mit einem mulmigen Gefühl überflog er den Text. Sie hatten unangenehm präzise Arbeit beim Verfassen des Artikels geleistet: ausführlich wurde sein Werdegang ausgebreitet, mit dem Elternhaus beginnend über sein schulisches Versagen bis hin zu seinem unbefriedigenden Arbeitsleben und seiner gescheiterten Ehe. Darin ähnelte die Abhandlung vielen Berichten dieser Art und er hatte sich schon oft über die Versager lustig gemacht, die – warum auch immer – an einem Tag in ihrem Leben dann doch das große Los gezogen hatten. Die Zusammenfassung seines eigenen Unvermögens flimmernd auf dem Bildschirm vor Augen geführt zu bekommen, war allerdings erheblich weniger amüsant. Das schlimmste jedoch war, dass sich im gesamten Text nicht ein Hinweis für den Grund seiner Auserwählung finden ließ.
Er wusste, was als nächstes kommen würde. Bald schon würde sein Videophon nicht mehr still stehen und vor der Tür würde sich die Lokalpresse versammeln. Mit allen möglichen Tricks würde man versuchen, sein Leben bis ins letzte Detail ans Licht zu bringen, Glücksjäger würden ihm die Hand schütteln wollen und vergessene Bekannte zu besten Freunden mutieren, um an seinem kurzlebigen Glanz teilhaben zu können. Doch auf die entscheidende Frage, der er sich bald fortwährend ausgesetzt sehen würde - was denn sein besonderes Glück ausmache - hatte er keine Ahnung. Peinlich.
Und wenn er einfach untertauchte und sich ein paar Monate irgendwo versteckte? Doch ohne die geeigneten finanziellen Mittel waren die Möglichkeiten begrenzt. Und er wollte nicht, wie einer der glücklichsten Menschen vor einigen Jahren, schließlich verwahrlost in der Kanalisation aufgespürt werden. Diese Art Stories blieben den Leuten noch mehr in Erinnerung als ein langweiliger, erfolgloser Glücksmensch. Vielleicht ließ sich aber aus der Sache sogar etwas Kapital schlagen, er brauchte nur eine gute Geschichte seines Glückstages, etwas, was ihn für die Werbung oder für Spielshows interessant machte. Dabei musste er aber sehr vorsichtig vorgehen, denn es wäre verheerend, wenn schließlich herauskäme, dass er sich den Ablauf des besagten Tages nur ausgedacht hatte. Er brauchte nicht beweisbares Glück, ohne nachprüfbare Zeugen! Und er würde darauf achten müssen, sich mit seinen Erlebnissen für die Zukunft nicht in einer bestimmten Schublade wieder zu finden. Er erinnerte sich noch gut daran, wie einer der Glücklichen, der mit ausschweifenden amourösen Abenteuern auf sich aufmerksam gemacht hatte, letztlich als Werbeträger für ausgefallenes Sexspielzeug endete und sich in schlüpfrigen Fernsehshows mit abgehalfterten Prominenten maß.
In diesem Augenblick klingelte es schon und er hörte auf dem Hausflur Stimmen. Kurz darauf machte auch sein Videophon blinkend und summend auf sich aufmerksam. Für eine Flucht war es nun ohnehin zu spät. Er würde improvisieren müssen.
Seufzend erhob er sich und ging zur Tür.
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Kritiken zur KG „Alle Menschen wollen glücklich sein“ (Don Carvalho)
Margot:
„Alle Menschen wollen glücklich sein“ / 1158 Wörter / erhalten 15.09.07
Stil, Bilder (Max. Punkte 10)
Flüssige, emotionsgeladene Schreibweise mit guten Pointen und Sprachwitz / hätte auch hier die Ich-Form gewählt / die Identifikation mit dem Protagonisten funktioniert (Suche nach Glück)/ origineller Einstieg, der den Spannungsbogen sofort aufbaut / lakonische Sprache passt zum Protagonisten und Thema / ausgearbeitete und nachvollziehbare Gedankengänge
Punkte 9
Idee, Innovation (Max. Punkte 10)
Originelle und innovative Idee! Gefällt mir sehr gut.
Punkte 10
Formale Gesichtspunkte (Max. Punkte 10)
Rechtschreibung und Grammatik korrekt / gut strukturiert mit passender Länge / ausgezeichneter, offener Schluss (man überlegt sich ein mögliches Weitergehen und wird nicht darüber aufgeklärt, was ihn denn jetzt wirklich zum Preisträger gemacht hat)
Punkte 10
Total 29 / 9,6
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Arno:
Alle Menschen wollen glücklich sein
Die Idee an und für sich finde ich nicht schlecht. Erinnert mich ein wenig immer an den Film „I heart Huckebees“ – in dem es im Grunde auch um Glück ging. Jedoch überzeugte mich die Umsetzung hier nicht. Die Sätze wirken manchmal ungelenk, weshalb sie kaum Spannung aufbauen können. Hinzu kommen leichte Missgriffe wie „Er brauchte nicht beweisbares Glück…“. Besser wäre z.B. „Er brauchte nicht nachweisbares Glück/ nicht-beweisbares Glück oder kein beweisbares Glück“. Der Seitenhieb in Richtung sich selbst beweihräuchernden B-F-Prominenten blieb auch hier leider nur ein seichter Augenblick. Wenn, dann richtig. So wirkt es – verzeih mir: glücklos. Hinzu kommt die Frage: Warum sollte man nach fast einem Jahr auf das Glück des 8.Mai aufmerksam werden? Der Text kennt keine Antwort. Manchmal kann man Texte lesen, die so abstruse Gedanken beherbergen (vgl. auch z.B. „Being John Malkovich“), dass man bestimmte Dinge nicht hinterfragt, weil der Text sehr gut damit arbeitet. Hier ist es leider nicht der Fall. Idee gut, aber wie gesagt, die Umsetzung überzeugte mich nicht. Daher gebe ich dir insgesamt 4,3 Punkte.
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Fabian:
Alle Menschen wollen glücklich sein
Sprache/Stil: 7,5/10
Inhalt/Idee: 8/10
Satzbau und Form: 7/10
Bewertung: 7,5
Platz 5
Täusche ich mich, oder ist das die dritte Geschichte von ein und demselben Autor?
Eine nette Idee, aus der man etwas mehr hätte machen können. Leider bleibt hier vieles im Ansatz stecken, zu viele Fragen offen.
Schon der Titel wirkt etwas unglücklich! Klingt nach schlechtem Schlager.
Was ist eigentlich Glück? Wer bestimmt, was Glück ist und wer beurteilt, wer glücklicher ist als andere? Und was lässt sich aus dem machen, was man hat, wenn man schon mal dazu verdammt ist, glücklich zu sein? Ein interessanter Ansatz, wie gesagt, aber warum nicht ein paar mehr Informationen? Wann spielt diese Geschichte? In welcher Gesellschaft und wie zum Teufel haben die das errechnet, dass am 08. Mai letzten Jahres gerade unser Protagonist gefälligst hätte glücklich sein müssen?
Der Anfang lässt hoffen, dass sich das klärt, liest man die Fußnote des Telegrams:
*bezogen auf den Tagesmittelwert und bereinigt
von durch Fremdstoffe oder psychische
Störungen verursachte Emotionen“
Doch danach nichts mehr von solch hochgestochenen Fachtermini. Es bleibt völlig unklar, wieso es überhaupt eine solche Erhebung gibt.
Am Ende wäre mir eine deutlichere Wende lieber gewesen. X hätte sich besser fühlen, aus den Gegebenheiten heraus tatsächlich Mut und so etwas wie Glücksempfinden entwickeln sollen. Einen Plan, richtig abzukassieren und ein Star zu werden, oder so was in der Richtung. Dann wäre es runder gewesen.
Trotzdem ist diese Geschichte keineswegs gänzlich schlecht. Allein die Idee der Umkehrung der Mechanismen, die zu Glück führen, ist eigentlich sehr interessant. X fühlt sich eigentlich hundeelend, aber weil man ihm sagt, er hätte Glück gehabt, versucht er schließlich, daraus Kapital zu schlagen.
Sprachlich in Ordnung. Aufgrund der Kürze leichte Abstriche. Formal ein paar kleine Fehler. Endet ein Satz mit Direkter Rede, setzt man das Satzzeichen vor das letzte Gänsefüßchen.
Fazit: Ausbaufähig, aber mit gutem und interessantem Grundgedanken.
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Platz 6: "Top-Ten Zwischenmeldung" (Joame Plebis)
Ich zog es aus meiner Jackentasche, wickelte vorsichtig das zerknitterte Papier auf, dann hielt ich das Stück Brot in der Hand. Stundenlang hatten meine Überlegungen gewährt, hatte ich das Für und Wider abgewogen, mich aber jetzt zum Entschluß durchgerungen und die für mich verlockendere Möglichkeit gewählt: einfach nachzugeben!
Jetzt, wo der Zwiespalt in mir ein Ende gefunden hatte, war ich erleichtert und wollte nicht weiterdenken, nur essen. Vorsorglich hielt ich beim ersten Biß die Handfläche der linken Hand darunter; kein Krümel sollte hinunterfallen. Der Magen würde wahrscheinlich aufhören zu knurren und der mich schon tagelang bohrende Schmerz sollte sich mäßigen oder ganz weg sein.
Aus meiner Plastikflasche, die ich stets mit mir trug, einige Schluck Wasser genommen, ließen mein Mahl gleich bekömmlicher werden. Nach den ersten Bissen sah für mich die Welt schon freundlicher aus. Während ich so sann, wie bescheiden Menschen sein können und das auch erlernbar ist, wurde ich nahezu übermütig und streckte die Beine aus. Behaglich lehnte ich mich an die etwas morsche Holzlehne der Bank, auf der ich saß. Nun nahm ich sogar das Zwitschern von Vogelstimmen wahr, die in den unzähligen Gebüschen oder Bäumen des Parkes ihre Heimstätte gefunden hatten. Genau wie ich, dachte ich und verzerrte dabei mein Gesicht unbewußt zu einem Lächeln, das für andere eher eine Grimasse gewesen wäre.
Vielleich waren die Vögel hier geboren worden? Für mich stand nach einigen Überlegungen fest, so müsse es sein. Denn es war eine große und dicht verwilderte Grünanlage, durch die man auch tagsüber Eichkätzchen huschen sehen konnte. Ja, wahrscheinlich, wenn ich die Kurzlebigkeit der Vögel bedachte, mußte es so sein. Menschen leben zwar etwas länger, vielleicht fünfundzwanzigmal länger, vielleicht auch weniger, einige Auserwählte etwas mehr.
Hoppla! Kaum gedanklich so intensiv abgelenkt, wäre mir ein größeres Stück Brot hinuntergefallen. Meine Reflexe verhinderten es, was mich etwas erfreut erstaunte und mir zugleich Auftrieb gab.
Mein Abstieg von einem Durchschnittsbürger bis zu dem Punkt, an dem ich mich
jetzt befand, war durch das Zusammenspiel etlicher Umstände rasant und steil erfolgt. Ich wollte mir die vielen unangenehmen Stationen gar nicht erst in Erinnerung rufen - es war zu bitter - ! Wollte nicht an die Mechanismen der unbarmherzigen Bürokratie denken, die wesentlich daran beteiligt gewesen waren. Begonnen hatte es mit dem Verlust des Arbeitsplatzes. Kurz darauf war die Scheidung erfolgt. Ich hatte alles verloren und war
mir sicher, dass ich daran unschuldig war.
Zuletzt verlor ich meine Bleibe. Jetzt hatte ich hier, an einem neben dem Park gelegenen Hang, in einem kleinen unbeachteten Stollen, mein 'Domizil'. Ganz erträglich hatte ich meine versteckte Bretterbude eingerichtet; ein Versteck im feuchten Erdreich. Positive Momente waren immer seltener geworden. Ich war stets auf der Suche nach Eßbarem oder einigen Münzen und hatte die Hoffnung, in meinem verwahrlosten Zustand und in meinem Alter, irgend eine Arbeit zu finden, schon längst aufgegeben.
Ich war menschenscheu geworden, hielt mich nur in der Öffentlichkeit auf, wenn es unumgänglich war. Mein Aussehen war erschreckend und ständiger Husten plagte mich. Weit konnte ich mit meinen geschwollenen Beinen nicht gehen. Vielleicht ganz gut so, um nicht zu sehr Aufsehen zu erregen.
Die Momente waren selten, wo ich mich im Park, den ich sehr liebte, aufhielt. Ich wählte dazu bewußt die Zeiten, wo mir wenige Menschen begegneten. Manchmal hatte ich mich auch schon verschätzt.
Das schien sich soeben auch wieder so ein Tag zu sein. Denn ich sah in einiger Entfernung eine Horde Gestalten schnellen Schrittes näher kommen. Einige hielten Flaschen in den Händen, aus denen sie, während sie kurz stehen blieben, tranken. Das Gegröle wurde lauter. Auch Mädchen schienen dabei zu sein, das entnahm ich dem Kichern.
Schon zu spät, dachte ich, mich in ein Gebüsch zu verdrücken. Sie hatten mich auch schon erblickt. Einer zeigte mit ausgestreckter Hand in meine Richtung und schrie etwas, worauf die anderen laut johlend reagierten.
Meine Beine hatte ich nicht mehr ausgestreckt, sondern meinen Kopf tiefer in den aufgestellten Jackenkragen eingezogen. Ich wollte nur warten, bis sie vorüber waren, um dann unbeobachtet in mein Versteck, mein Heim zurückzukehren zu können.
Es waren sieben Gestalten, die sich näherten. Ich atmete etwas erleichtert auf, als ich erkannte, daß es allesamt noch Kinder waren, ungefähr dreizehn bis fünfzehn Jahre alt. Nicht lange hielt meine Erleichterung an, als zwei der Jugendlichen vom Rand des Weges Holzknüppel aufhoben. Alle steuerten schnurstracks auf meine Bank zu.
Der erste war bei mir angelangt und stellte seinen Fuß neben mich auf die Bank. Die zwei Mädchen setzten sich einfach ins Laub neben die Bank, während sich die anderen Burschen jetzt hinter mir befanden.
"Kannst Du mir sagen wie spät es ist?" fragte der, der seinen Turnschuh neben mich auf die Bank gestellt hatte. Meine Antwort klang heiser als ich sagte "Es wird schon um acht Uhr herum sein, vielleicht etwas früher."
"Es is zu spät!" Ich blickte auf und sah in ein kleines Gesicht, das mich ausdruckslos anstarrte. Mir fiel das schöne glänzend schwarze Haar auf. Der andere, der neben ihn getreten war, hatte blondes, fast schulterlanges Haar. Seine Sportjacke war Markenware, das erkannte ich, zugleich gewahrte ich auch die Ausdünstung von Alkohol.
"Wieso zu spät?" Leicht irritiert sah ich zu ihm auf. Gedehnt sagt er "Is ja noch nich, für dich aber schon!"
In diesem Moment war eine kurze Berührung an meinem Hinterkopf, eine Erschütterung - eine Riesenexplosion oder Blitz. Dann nichts.
----
Der Lokalsender brachte in den Morgenstunden die Musiksendung 'Top Ten', zwischendurch eine kurze Meldung: "In den gestrigen Abendstunden wurde im Stadtpark vermutlich ein Obdachloser mit zertrümmertem Schädel tot aufgefunden. Nach den Tätern wird gefahndet.
Und nun geht es weiter mit den Top Ten - Wir wünschen gute Unterhaltung!"
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Kritiken zur KG „Top-Ten Zwischenmeldung“ (Joame Plebis)
Margot:
„Top-Ten Zwischenmeldung“ / 933 Wörter / erhalten 15.09.07
Stil, Bilder (Max. Punkte 10)
Flüssige, jedoch auch etwas emotionslose Schreibweise / wenig Kolorit, der Protagonist wirkt dadurch distanziert / Diskrepanz zwischen Sprache und Örtlichkeit (man hat das Gefühl, der Protagonist sitze im Massanzug auf der Parkbank. Keine Anzeichen einer Verrohung der Sprache, der Gefühle etc., was eigentlich bei dem Leben logisch wäre) / Spannungsbogen fehlt. Auch die Bedrohung am Ende wirkt wie in Zellophan gehüllt und packt nicht
Punkte 7.5
Idee, Innovation (Max. Punkte 10)
Das Manager-zu-Penner-Thema ist bekannt und bekommt hier keine neue Sichtweise / den Nachtrag (Nachrichten) braucht es nicht unbedingt = es muss keine „Botschaft“ (nur der Tod eines Penners … lasst uns zum Tagesgeschehen übergehen) transportiert werden
Punkte 7
Formale Gesichtspunkte (Max. Punkte 10)
Rechtschreibung und Grammatik korrekt / die Sprache ist fast zu gehoben für eine KG / gute Länge /guter, offener Schluss (man weiss nicht, wieso die Jugendlichen das tun und muss sich eigene Gedanken dazu machen)
Punkte 8
Total 22.5 / 7,4
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Arno Boldt:
Top-Ten Zwischenmeldung
Dafür, dass der Einstieg so lang ist, wird recht wenig Detailliertes beschrieben. Der Leser bleibt weitestgehend auf der Strecke. Es wird zwar gesagt, wo der Erzähler war und wo er sich jetzt befindet. Es wird allerdings nicht auf genaue Umstände bzw. Anker verwiesen. Im Laufe des Einstiegs erwähnt der Erzähler, dass er an das Vergangene nicht denken will; ignoriert diese Aussage aber sofort wieder, indem er davon berichtet. Ich habe überlegt, wie ich es am besten ausdrücken könnte. Stellen wir uns eine Kamerafahrt vor, die den Bildinhalt zwar zeigt, dieses aber mit jump cuts und unscharf. Und genau das ist, was ich hier vorfand. Seine Charakterisierung (z. B. menschenscheu) hätte ich lieber durch Aktion erlebt als durch Selbstbeschreibung des Erzählers erfahren – wie es im Mittelteil der Fall war. Dass es womöglich kein gutes Ende wird, kann man schon ab Mitte des Textes ausfindig machen. Wenn eine ‚Horde Gestalten schnellen Schrittes näher kommen’, dann wird das Tragische schon impliziert. Schade, dass es am Ende auch so war bzw. schade, dass das Ende so schnell verraten wurde. Dieses finde ich daher zu platt und auch zu holzhammermäßig. Der Schluss lässt stark vermuten, dass dieser zuerst stand und der Autor sich sehnlich darauf hingeschrieben hat. Das Erschütternde an der Tat kommt dadurch nicht wirklich zum Vorschein. Die Idee allerdings finde ich gut – nur die Ausführung bis zum Schluss sagte mir eben nicht zu. Insgesamt 4 Punkte.
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Fabian:
Top-Ten Zwischenmeldung
Sprache/Stil: 7,5/ 10
Inhalt/Idee: 7/10
Satzbau und Form: 7,5/10
Bewertung: 7,3
Platz 6
Kritik:
Eine sehr kurze Geschichte. Insgesamt sehr übersichtlich und solide durchgezogen. Der Autor hält sich nicht mit langen Einstiegen auf und führt den Leser direkt in die Handlung, was aufgrund der Kürze auch in Ordnung ist.
Der „Ich-Erzähl-Stil“ ist für diese Geschichte ungewöhnlich, aber durchaus interessant. Gerade diese Idee gefällt mir an dem Text am besten, weil man den Tod des Erzählers am wenigsten erwartet. Die Wirkung des Endes wird dadurch verstärkt. Allerdings erfolgt am Schluss ein Perspektivwechsel, der in meinen Augen so gar nicht passen mag. Da hätte mir eine nähere Beschreibung seines nahenden Todes aus seiner Sicht besser gefallen.
Details bleiben aber Mangelware. Schon am Anfang fragte ich mich, worüber die Person eigentlich so intensiv grübelt. Ihre Ängste, nicht zu wissen wann sie das nächste Mal etwas Essbares findet, werden nur gestreift. Auch erfährt man nicht wirklich, wer sie eigentlich ist. Deswegen wird eine Identifizierung oder ein Mitfühlen schon im Ansatz gedämpft. Ebenso wird der angesprochene Abstieg, der letztendlich ja am Ende mit dem Tod fortgesetzt wird, nur kurz umrissen und mit Worten wie „rasant“ und „Domizil“ entsteht der Eindruck einer Leichtigkeit, die der Aussage der Geschichte entgegenwirken. Wichtig wäre für mich gewesen, zu erfahren, wer denn hier eigentlich so ungerecht behandelt worden ist und vor allem, in welcher Form. Wie hat „Ich“ das erlebt und was dabei gefühlt?
Stattdessen werden unter Anderem die noch vortrefflichen Reflexe erwähnt und darüber nachgedacht, ob die Vögel in dieser Grünanlage geboren wurden.
Worte, wie „Hoppla“, wirken für einen Erzähler deplaziert.
Rein formal gibt es ein paar Dinge zu beanstanden in diesem kurzen Text. Immerhin wurde das „ß“ konsequent falsch benutzt, wo ein ss hätte stehen müssen. Scheinbar ist es also bewusst erfolgt. Falsch bleibt es trotzdem.
Einige Sätze sind ungelenk oder einfach nicht korrekt formuliert.
Bspl.: „Aus meiner Plastikflasche, die ich stets mit mir trug, einige Schluck Wasser genommen, ließen mein Mahl gleich bekömmlicher werden.“
Richtig hätte es heißen müssen: „Einige Schluck Wasser(, genommen) aus meiner Plastikflasche, die ich stets mit mir trug, ließen mein Mahl gleich bekömmlicher werden.“
Trotzdem insgesamt eine ansprechende Form.
Längere und verschachtelte Sätze wechseln mit kürzeren, was mich anspricht.
Fazit: Etwas holprige Geschichte, die aber neben aller Kritik einen gewissen Charme versprüht. Die Idee gefällt mir gut. Auch, einen „Ich-Erzähler“ zu wählen, finde ich spannend. Allerdings hätte man das Ganze etwas mehr ausarbeiten müssen und andere Schwerpunkte beleuchten sollen, um den Betroffenheitseffekt am Ende zu erzielen.
So bleibt die Geschichte letztlich doch im Ansatz stecken.
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Ich zog es aus meiner Jackentasche, wickelte vorsichtig das zerknitterte Papier auf, dann hielt ich das Stück Brot in der Hand. Stundenlang hatten meine Überlegungen gewährt, hatte ich das Für und Wider abgewogen, mich aber jetzt zum Entschluß durchgerungen und die für mich verlockendere Möglichkeit gewählt: einfach nachzugeben!
Jetzt, wo der Zwiespalt in mir ein Ende gefunden hatte, war ich erleichtert und wollte nicht weiterdenken, nur essen. Vorsorglich hielt ich beim ersten Biß die Handfläche der linken Hand darunter; kein Krümel sollte hinunterfallen. Der Magen würde wahrscheinlich aufhören zu knurren und der mich schon tagelang bohrende Schmerz sollte sich mäßigen oder ganz weg sein.
Aus meiner Plastikflasche, die ich stets mit mir trug, einige Schluck Wasser genommen, ließen mein Mahl gleich bekömmlicher werden. Nach den ersten Bissen sah für mich die Welt schon freundlicher aus. Während ich so sann, wie bescheiden Menschen sein können und das auch erlernbar ist, wurde ich nahezu übermütig und streckte die Beine aus. Behaglich lehnte ich mich an die etwas morsche Holzlehne der Bank, auf der ich saß. Nun nahm ich sogar das Zwitschern von Vogelstimmen wahr, die in den unzähligen Gebüschen oder Bäumen des Parkes ihre Heimstätte gefunden hatten. Genau wie ich, dachte ich und verzerrte dabei mein Gesicht unbewußt zu einem Lächeln, das für andere eher eine Grimasse gewesen wäre.
Vielleich waren die Vögel hier geboren worden? Für mich stand nach einigen Überlegungen fest, so müsse es sein. Denn es war eine große und dicht verwilderte Grünanlage, durch die man auch tagsüber Eichkätzchen huschen sehen konnte. Ja, wahrscheinlich, wenn ich die Kurzlebigkeit der Vögel bedachte, mußte es so sein. Menschen leben zwar etwas länger, vielleicht fünfundzwanzigmal länger, vielleicht auch weniger, einige Auserwählte etwas mehr.
Hoppla! Kaum gedanklich so intensiv abgelenkt, wäre mir ein größeres Stück Brot hinuntergefallen. Meine Reflexe verhinderten es, was mich etwas erfreut erstaunte und mir zugleich Auftrieb gab.
Mein Abstieg von einem Durchschnittsbürger bis zu dem Punkt, an dem ich mich
jetzt befand, war durch das Zusammenspiel etlicher Umstände rasant und steil erfolgt. Ich wollte mir die vielen unangenehmen Stationen gar nicht erst in Erinnerung rufen - es war zu bitter - ! Wollte nicht an die Mechanismen der unbarmherzigen Bürokratie denken, die wesentlich daran beteiligt gewesen waren. Begonnen hatte es mit dem Verlust des Arbeitsplatzes. Kurz darauf war die Scheidung erfolgt. Ich hatte alles verloren und war
mir sicher, dass ich daran unschuldig war.
Zuletzt verlor ich meine Bleibe. Jetzt hatte ich hier, an einem neben dem Park gelegenen Hang, in einem kleinen unbeachteten Stollen, mein 'Domizil'. Ganz erträglich hatte ich meine versteckte Bretterbude eingerichtet; ein Versteck im feuchten Erdreich. Positive Momente waren immer seltener geworden. Ich war stets auf der Suche nach Eßbarem oder einigen Münzen und hatte die Hoffnung, in meinem verwahrlosten Zustand und in meinem Alter, irgend eine Arbeit zu finden, schon längst aufgegeben.
Ich war menschenscheu geworden, hielt mich nur in der Öffentlichkeit auf, wenn es unumgänglich war. Mein Aussehen war erschreckend und ständiger Husten plagte mich. Weit konnte ich mit meinen geschwollenen Beinen nicht gehen. Vielleicht ganz gut so, um nicht zu sehr Aufsehen zu erregen.
Die Momente waren selten, wo ich mich im Park, den ich sehr liebte, aufhielt. Ich wählte dazu bewußt die Zeiten, wo mir wenige Menschen begegneten. Manchmal hatte ich mich auch schon verschätzt.
Das schien sich soeben auch wieder so ein Tag zu sein. Denn ich sah in einiger Entfernung eine Horde Gestalten schnellen Schrittes näher kommen. Einige hielten Flaschen in den Händen, aus denen sie, während sie kurz stehen blieben, tranken. Das Gegröle wurde lauter. Auch Mädchen schienen dabei zu sein, das entnahm ich dem Kichern.
Schon zu spät, dachte ich, mich in ein Gebüsch zu verdrücken. Sie hatten mich auch schon erblickt. Einer zeigte mit ausgestreckter Hand in meine Richtung und schrie etwas, worauf die anderen laut johlend reagierten.
Meine Beine hatte ich nicht mehr ausgestreckt, sondern meinen Kopf tiefer in den aufgestellten Jackenkragen eingezogen. Ich wollte nur warten, bis sie vorüber waren, um dann unbeobachtet in mein Versteck, mein Heim zurückzukehren zu können.
Es waren sieben Gestalten, die sich näherten. Ich atmete etwas erleichtert auf, als ich erkannte, daß es allesamt noch Kinder waren, ungefähr dreizehn bis fünfzehn Jahre alt. Nicht lange hielt meine Erleichterung an, als zwei der Jugendlichen vom Rand des Weges Holzknüppel aufhoben. Alle steuerten schnurstracks auf meine Bank zu.
Der erste war bei mir angelangt und stellte seinen Fuß neben mich auf die Bank. Die zwei Mädchen setzten sich einfach ins Laub neben die Bank, während sich die anderen Burschen jetzt hinter mir befanden.
"Kannst Du mir sagen wie spät es ist?" fragte der, der seinen Turnschuh neben mich auf die Bank gestellt hatte. Meine Antwort klang heiser als ich sagte "Es wird schon um acht Uhr herum sein, vielleicht etwas früher."
"Es is zu spät!" Ich blickte auf und sah in ein kleines Gesicht, das mich ausdruckslos anstarrte. Mir fiel das schöne glänzend schwarze Haar auf. Der andere, der neben ihn getreten war, hatte blondes, fast schulterlanges Haar. Seine Sportjacke war Markenware, das erkannte ich, zugleich gewahrte ich auch die Ausdünstung von Alkohol.
"Wieso zu spät?" Leicht irritiert sah ich zu ihm auf. Gedehnt sagt er "Is ja noch nich, für dich aber schon!"
In diesem Moment war eine kurze Berührung an meinem Hinterkopf, eine Erschütterung - eine Riesenexplosion oder Blitz. Dann nichts.
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Der Lokalsender brachte in den Morgenstunden die Musiksendung 'Top Ten', zwischendurch eine kurze Meldung: "In den gestrigen Abendstunden wurde im Stadtpark vermutlich ein Obdachloser mit zertrümmertem Schädel tot aufgefunden. Nach den Tätern wird gefahndet.
Und nun geht es weiter mit den Top Ten - Wir wünschen gute Unterhaltung!"
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Kritiken zur KG „Top-Ten Zwischenmeldung“ (Joame Plebis)
Margot:
„Top-Ten Zwischenmeldung“ / 933 Wörter / erhalten 15.09.07
Stil, Bilder (Max. Punkte 10)
Flüssige, jedoch auch etwas emotionslose Schreibweise / wenig Kolorit, der Protagonist wirkt dadurch distanziert / Diskrepanz zwischen Sprache und Örtlichkeit (man hat das Gefühl, der Protagonist sitze im Massanzug auf der Parkbank. Keine Anzeichen einer Verrohung der Sprache, der Gefühle etc., was eigentlich bei dem Leben logisch wäre) / Spannungsbogen fehlt. Auch die Bedrohung am Ende wirkt wie in Zellophan gehüllt und packt nicht
Punkte 7.5
Idee, Innovation (Max. Punkte 10)
Das Manager-zu-Penner-Thema ist bekannt und bekommt hier keine neue Sichtweise / den Nachtrag (Nachrichten) braucht es nicht unbedingt = es muss keine „Botschaft“ (nur der Tod eines Penners … lasst uns zum Tagesgeschehen übergehen) transportiert werden
Punkte 7
Formale Gesichtspunkte (Max. Punkte 10)
Rechtschreibung und Grammatik korrekt / die Sprache ist fast zu gehoben für eine KG / gute Länge /guter, offener Schluss (man weiss nicht, wieso die Jugendlichen das tun und muss sich eigene Gedanken dazu machen)
Punkte 8
Total 22.5 / 7,4
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Arno Boldt:
Top-Ten Zwischenmeldung
Dafür, dass der Einstieg so lang ist, wird recht wenig Detailliertes beschrieben. Der Leser bleibt weitestgehend auf der Strecke. Es wird zwar gesagt, wo der Erzähler war und wo er sich jetzt befindet. Es wird allerdings nicht auf genaue Umstände bzw. Anker verwiesen. Im Laufe des Einstiegs erwähnt der Erzähler, dass er an das Vergangene nicht denken will; ignoriert diese Aussage aber sofort wieder, indem er davon berichtet. Ich habe überlegt, wie ich es am besten ausdrücken könnte. Stellen wir uns eine Kamerafahrt vor, die den Bildinhalt zwar zeigt, dieses aber mit jump cuts und unscharf. Und genau das ist, was ich hier vorfand. Seine Charakterisierung (z. B. menschenscheu) hätte ich lieber durch Aktion erlebt als durch Selbstbeschreibung des Erzählers erfahren – wie es im Mittelteil der Fall war. Dass es womöglich kein gutes Ende wird, kann man schon ab Mitte des Textes ausfindig machen. Wenn eine ‚Horde Gestalten schnellen Schrittes näher kommen’, dann wird das Tragische schon impliziert. Schade, dass es am Ende auch so war bzw. schade, dass das Ende so schnell verraten wurde. Dieses finde ich daher zu platt und auch zu holzhammermäßig. Der Schluss lässt stark vermuten, dass dieser zuerst stand und der Autor sich sehnlich darauf hingeschrieben hat. Das Erschütternde an der Tat kommt dadurch nicht wirklich zum Vorschein. Die Idee allerdings finde ich gut – nur die Ausführung bis zum Schluss sagte mir eben nicht zu. Insgesamt 4 Punkte.
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Fabian:
Top-Ten Zwischenmeldung
Sprache/Stil: 7,5/ 10
Inhalt/Idee: 7/10
Satzbau und Form: 7,5/10
Bewertung: 7,3
Platz 6
Kritik:
Eine sehr kurze Geschichte. Insgesamt sehr übersichtlich und solide durchgezogen. Der Autor hält sich nicht mit langen Einstiegen auf und führt den Leser direkt in die Handlung, was aufgrund der Kürze auch in Ordnung ist.
Der „Ich-Erzähl-Stil“ ist für diese Geschichte ungewöhnlich, aber durchaus interessant. Gerade diese Idee gefällt mir an dem Text am besten, weil man den Tod des Erzählers am wenigsten erwartet. Die Wirkung des Endes wird dadurch verstärkt. Allerdings erfolgt am Schluss ein Perspektivwechsel, der in meinen Augen so gar nicht passen mag. Da hätte mir eine nähere Beschreibung seines nahenden Todes aus seiner Sicht besser gefallen.
Details bleiben aber Mangelware. Schon am Anfang fragte ich mich, worüber die Person eigentlich so intensiv grübelt. Ihre Ängste, nicht zu wissen wann sie das nächste Mal etwas Essbares findet, werden nur gestreift. Auch erfährt man nicht wirklich, wer sie eigentlich ist. Deswegen wird eine Identifizierung oder ein Mitfühlen schon im Ansatz gedämpft. Ebenso wird der angesprochene Abstieg, der letztendlich ja am Ende mit dem Tod fortgesetzt wird, nur kurz umrissen und mit Worten wie „rasant“ und „Domizil“ entsteht der Eindruck einer Leichtigkeit, die der Aussage der Geschichte entgegenwirken. Wichtig wäre für mich gewesen, zu erfahren, wer denn hier eigentlich so ungerecht behandelt worden ist und vor allem, in welcher Form. Wie hat „Ich“ das erlebt und was dabei gefühlt?
Stattdessen werden unter Anderem die noch vortrefflichen Reflexe erwähnt und darüber nachgedacht, ob die Vögel in dieser Grünanlage geboren wurden.
Worte, wie „Hoppla“, wirken für einen Erzähler deplaziert.
Rein formal gibt es ein paar Dinge zu beanstanden in diesem kurzen Text. Immerhin wurde das „ß“ konsequent falsch benutzt, wo ein ss hätte stehen müssen. Scheinbar ist es also bewusst erfolgt. Falsch bleibt es trotzdem.
Einige Sätze sind ungelenk oder einfach nicht korrekt formuliert.
Bspl.: „Aus meiner Plastikflasche, die ich stets mit mir trug, einige Schluck Wasser genommen, ließen mein Mahl gleich bekömmlicher werden.“
Richtig hätte es heißen müssen: „Einige Schluck Wasser(, genommen) aus meiner Plastikflasche, die ich stets mit mir trug, ließen mein Mahl gleich bekömmlicher werden.“
Trotzdem insgesamt eine ansprechende Form.
Längere und verschachtelte Sätze wechseln mit kürzeren, was mich anspricht.
Fazit: Etwas holprige Geschichte, die aber neben aller Kritik einen gewissen Charme versprüht. Die Idee gefällt mir gut. Auch, einen „Ich-Erzähler“ zu wählen, finde ich spannend. Allerdings hätte man das Ganze etwas mehr ausarbeiten müssen und andere Schwerpunkte beleuchten sollen, um den Betroffenheitseffekt am Ende zu erzielen.
So bleibt die Geschichte letztlich doch im Ansatz stecken.
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