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Aktionspotenziale
#1
von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Aktionspotenziale
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 11.11.2007 13:21von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Prolog
Meine einzige Erinnerung an die Zeit, als ich ein Kleinkind von vielleicht vier Jahren war, ist die, dass Mum mit einem vollbeladenen Tablett in der Hand vorüberging, es schaffte, mir, der ich traumverloren am abgeräumten Esstisch saß und malte, den Wachsmaler von der linken in die rechte Hand zu stecken. Vielleicht hat sie dafür das Tablett auch abgestellt, vielleicht auch Dad angegiftet, er solle mehr auf mich achten, denn vielleicht lag Dad schon satt und rund in seinem Sessel und spielte mit der Spieluhr. Und vielleicht betrachtete er versunken, die sich anmutig und verführerisch auf dem Teller drehende und Geige spielende Fee? Vielleicht.
I.
Sie sagte es mir, als wir in die neu eröffnete Shoppingmall fuhren, um die zur Eröffnung üblichen Sonderangebote auszunutzen. Ich hatte gerade die Schule beendet und war dabei, mich zu entscheiden, wie es weitergehen sollte.
„Mum, wir müssen links abbiegen.“, dirigierte ich sie durch den dichten Verkehr.
Mum nickte und fuhr rechts rum und ich bemerkte, dass ich auch rechts gemeint hatte. Aber wie konnte sie sich so sicher sein, denn wir fuhren in keinem uns bekannten Viertel?
„Das ist alles meine Schuld.“, sagte sie plötzlich, ohne mich anzublicken.
„Was ist deine Schuld?“
„Deine Schwierigkeiten mit links und rechts und so.“
„Was meinst Du?“
„Ich habe Dich umgestellt. Von links auf rechts. Ich hatte gedacht, das würde es Dir einfacher machen.“
„Wovon redest Du?!“
Sie musste vor einer Kreuzung anhalten und blickte zu mir. Sie war nicht den Tränen nahe, aber sie sah mich so an, als wäre ich nicht ihr neunzehnjähriger Sohn, sondern ein völlig Fremder gewesen.
„Von meinen Fehlern rede ich, hörst Du? Es tut mir leid. Ich dachte, dass es in einer Welt, in der vorrangig Rechtshänder leben, einfacher für Dich wäre, wenn Du nicht ständig umdenken müsstest, verstehst Du? Es leichter für dich wäre, wenn Du auch im Uhrzeigersinn ticken würdest.“
„Du meinst richtig rum?“, fragte ich stutzig.
„Ja.“
„Dann bin ich eigentlich andersrum?“, grinste ich sie nach einer kurzen Pause an und war froh, einen Ausweg gefunden zu haben, dieses mir unangenehme und mir von meiner Mum unvermittelt aufgezwungene Thema beenden und das Gespräch in andere Gefilde lenken zu können.
„Blödmann.“, lachte sie mich an. „Du und andersrum – pfff.“
Und bevor Mum zu irgendwelchen Peinlichkeiten aus meiner Vergangenheit ausholen konnte, brach hinter ihr ein Hupkonzert aus. Ich nahm es zum willkommenen Anlass, mich umzudrehen und den nachfolgenden Rumhupern wilde Gesten zu machen und war erleichtert, als wir endlich weiterfuhren.
Wir sprachen nie wieder darüber. Aber in der Nacht jenes Tages, an dem sie mir ihren Fehler gebeichtet hatte, starrte ich meine linke Hand an und fragte mich, was in ihr stecken mochte.
II.
Mir wurde in jener Nacht bewusst, dass linkisch und link Schimpfworte sind und dagegen die rechtschaffenen Begrifflichkeiten stehen. Ich erinnerte mich, weil Mum und ich, als wir noch im Dorf bei Großmutter lebten, jeden Sonntag in die Kirche gingen und viel aus der Bibel und anderen kirchlichen Büchern lasen und singen mussten, dass die Männer rechts und die Frauen links in der Kirche saßen. Wenn ich mir die Bildnisse von der Kreuzigung Jesu in Erinnerung rief, gewahrte ich, dass Jesus immer nach rechts schaute und dort die Besseren standen. Dort war Maria und nicht Johannes, dort war keiner verhüllt oder am Straucheln. Dort war das Licht und nicht der Schatten. Über der linken Schulter des Erlösers aber prangte der Mond und zu seiner Linken, auf der Seite, auf die er nicht sah, führten Höllenknechte Sünder in einen tiefen Schlund.
Ich erinnerte mich, dass Großmutter Ingeborg immer tadelnd ihre rechte Augenbraue hochzog, wenn ich sie mit der linken Hand begrüßen wollte. Wir waren bald nach Dads Unfalltod – ich war gerade fünf Jahre alt geworden, als es passiert war – bei Großmutter eingezogen und blieben lange bei ihr wohnen.
Generell war Großmutter nicht amüsiert, wenn ich mit meiner Linken agierte. Wenn Ingeborg ihren Mund zu einem Strich zusammenzog, dabei die Glieder ihrer schweren Perlenkette durch ihre faltigen Finger gleiten ließ und insgesamt zu einer Statue der Strenge gefror, bekam ich eine undefinierte, fürchterliche Angst vor dieser Frau und fing wieder an zu stottern.
Meine Mum schämte sich lange wegen meiner Stotterei. Schnell hieß es im Dorf, ich sei zurückgeblieben. Was sich eben auch an meiner Sauklaue und Rechtschreibschwäche manifestierte. Ich wusste es besser und arbeitete an mir. Ich wollte nicht, dass Mum sich für mich schämte. Ich behielt zwar meine krakelige Schrift, aber ich bekam es hin, nicht mehr zu stottern.
Aber wenn ich vor Ingeborg strammstehen musste, weil sie mich bei irgendetwas ertappt hatte und sie mich lange anschwieg und ich nur das Aneinanderklicken ihrer Perlen und das Ticken der großen Wanduhr hörte, bis sie mich endlich fragte, was ich mir denn dabei nun wieder gedacht hätte, da konnte ich nicht anders, als stotternd zu antworten. Aber es war kein Stottern aus Verlegenheit. Es war der Druck, richtig funktionieren zu müssen, den mich die alte Frau immer und immer wieder spüren ließ. Sie aber schien das zu amüsieren.
Allerdings war keiner von uns beiden mehr amüsiert, als – da war ich zwölf - sie plötzlich in mein Zimmer gekommen war, während ich dabei war an mir herumzuspielen. Ich war wie erstarrt und wagte keinen Muskel zu bewegen. Hätte sie länger in der Tür gestanden, wäre ich wahrscheinlich erstickt.
„DAS solltest Du wenigstens mit links machen!“, fauchte sie und ließ die Tür wieder krachend ins Schloss fallen.
Die nächsten Tage und Wochen war ich wie paralysiert und schämte mich in Grund und Boden. Mum realisierte wohl, wie schlecht es mir ging und dass ich Großmutter, wo ich nur konnte, auswich und so war es ein glücklicher Tag, als wir ein gutes halbes Jahr später nach diesem Vorfall Ingeborg wieder verließen und unsere Zelte in der Stadt aufschlugen.
Mum hatte über einen Bekannten, Onkel Kuki, einen Job in einer Zeitungsredaktion als Schreibhilfe bekommen. Wir hatten Großmutter seither nie wieder gemeinsam besucht. Ich glaube, sie hat ihre Mutter danach sowieso nur noch selten alleine gesehen oder gesprochen.
Ich war und blieb auch in der Stadt der verbissene, kleine Junge. Ein Eigenbrötler mit wenigen Freunden, eher Bekannten als Freunden. Hin und wieder unternahm man etwas. Für Kino konnte ich mich immerhin begeistern. Alles andere, wo ich hätte mehr reden müssen – heute sagt man small talk dazu - war mir aber ein Graus. Insgesamt tat mir die Stadt aber gut. Erst war ich verstört von der Vielzahl der Menschen, aber ich begriff schnell, dass die allermeisten, denen ich begegnete, mich gar nicht wahrnahmen und ebenso wenig Interesse wie ich daran hatten, Kontakt zueinander aufzubauen. Nachdem ich das begriffen hatte, ging es mir besser.
Ich schaffte den Sprung aufs Gymnasium und ich frönte einem Hobby: Aktionspotentiale. Ich liebte es, die Steinchen in von mir erdachten Welten aufzubauen und durch meine selbst konstruierten Apparaturen zu führen. Es bedarf einer ruhigen Hand und Präzision. Zwar ermüdete ich schnell beim Bauen, dass ich mit rechts erledigte, aber der optische und akustische Genuss, wenn die Steinchen in einem gleichbleibenden Stakkato fielen und die Befriedigung, wenn alle Steine gefallen waren, die waren mir jede Mühe Wert.
Mum hielt es für extrem nervend, in einer kleinen Wohnung solche Domino-Landschaften aufzubauen und für total bescheuert, sein Wochenende damit zu versauen. Aber sie steuerte die teuren Steine bei und baute – unter genauester Anweisung von mir – auch selbst mit.
Sie hatte es irgendwann aufgegeben, mich aus meinem Schneckenhaus rausziehen zu wollen. In meiner Pubertät hatten wir uns ein paar Mal über mein angeblich kaum zu ertragendes Desinteresse an allem Menschlichen gestritten. Aber bald schon kapitulierte sie: „Du bist so ein Sturkopf!“ und „ein elender, kleiner Rechthaber“. Damit beendete sie frustriert ihre Erziehungsversuche.
Sie hatte viel auszustehen, als ich älter wurde. Daher versuchte ich stets, meine Mum nicht noch durch schulische Scherereien zu belasten. Ich wollte gut funktionieren. Es langte sogar zu einer guten Matura und unter Mitschülern und Lehrern zum zweifelhaften Ruf eines nervtötenden Diskutanten, der, wenn auch selten, aber wenn, dann beharrlich, immer und immer wieder auf einem einzigen Punkt herumreiten konnte. „Der Ja-Aber“, so nannten sie mich gerne. Aber es ging mir halt gegen den Strich, wenn eine Ausgangsthese ungenau formuliert und eine Diskussion schon dadurch falsch begonnen worden war. Entsetzlich.
Aber mit Rechthaberei war es nun vorbei. Auf einmal war ich kein Rechthaber mehr, sondern ein Linkshänder geworden und mir fielen diese Kleinigkeiten an mir auf: Außer bei unserer Zeit bei Ingeborg, tauschte ich beim Essen sofort Messer und Gabel an ihrem Platz. Oder ich nahm Scheren grundsätzlich in die linke Hand. Zwar spielte ich kaum Fußball, aber wenn, dann spielte ich auf der linken Seite und warf mir jemand etwas zu, fing ich es mit meiner starken Hand auf: der linken. Die Linke war auch stets meine Schlaghand.
All diese Kuriositäten gingen mir in jener Nacht durch den Kopf. Vielleicht nicht so konkret, aber vieles, was ich oder andere als Spleen oder Kuriosität abgetan hatten, schüttelte mich nun durch. Ich sah meine linke Hand an und fragte mich, wie viel von mir in ihr stecken mochte und was noch vergraben war. Schließlich machte ich das Licht aus und fand keine Ruhe mehr.
III.
Am nächsten Tag fasste ich einen heimlichen Entschluss: Von nun an wollte ich alles mit links machen. Nach nur wenigen Wochen stellte ich fest, welche Fortschritte ich gemacht hatte. Meine Schrift entwickelte und verbesserte sich. Mit jeder Zeile, die ich mit links schrieb, stieg mein Selbstbewusstsein. Jede Zeile, die ich schrieb, veränderte, ja befreite mich. Es ging wie von selbst, dass die Menschen mir auf einmal näher waren als je zuvor. Ich konnte mit ihnen über alles Mögliche reden und in einer Diskussion, die ich früher nur über Dinge, aber nie über Menschen geführt habe, verzichtete ich freiwillig auf das letzte Wort. Der Witz war, dass Anne überhaupt nicht mitbekam, dass ich dabei war meine Händigkeit wieder zurückzustellen. Natürlich lag es auch daran, dass ich wenige Monate nach meinem Entschluss, einen Studienplatz erhalten hatte und in eine WG in einer anderen Stadt gezogen war. So besuchte ich sie nur noch hin und wieder. Sie war aber glücklich, dass ich endlich aus mir herausgefunden hatte. Warum das so war, wollte sie nicht erkennen. Allerdings schockte ich sie noch einmal, als ich kurz darauf auch aus der Kirche austrat. Sie hielt es einen Monat lang durch, mich zu verstoßen, danach nahm sie den Hörer ab und redete mit mir und ich durfte sie auch wieder besuchen.
Ich studierte zu dieser Zeit Architektur. Das Fach erschien mir damals goldrichtig zu sein. Es erforderte Pedanterie, Perfektionismus im Detail und war mathematisch anspruchvoll. Ich liebte den Bauhausstil und seinen Funktionalismus. Alles Überflüssige war dort gestrichen. Je mehr ich aber meinem neuen Steckenpferd – dem linken Leben – frönte, desto häufiger langweilte mich auch das Alte. Neugierig betrat ich neue Welten und war offener, etwas auszuprobieren.
So nahm mich eines Tages ein Kommilitone zu einem Zeichenkursus der Volkshochschule mit, der neben Zeichenübungen auch Selbsterkenntnis versprach. Natürlich hatte ich in meiner Vergangenheit schon gemalt und gezeichnet. Recht passabel sogar, wobei ich mich ausschließlich auf das Abzeichnen konzentriert und mich für perspektivische Raffinessen interessiert hatte.
Zwar hatte ich eigentlich komplett auf links umgestellt, aber bei den Zeichnungen in den Seminaren und Übungen für das Architekturstudium vertraute ich – weil es um Exaktheit ging - weiterhin der rechten. Der Volkshochschulkurs schien mir eine gute Gelegenheit zu sein, meine linke Hand weiter zu trainieren, um sie bald auch an der Uni einsetzen zu können.
„Schließt bitte die Augen. Versucht alles um Euch herum zu vergessen. Macht Euren Kopf leer. Lasst Euch fallen. Leere ist der Beginn allen Schaffens. Wir wollen einen leeren Kopf, ein leeres Blatt.“ Immer monotoner werdend sprach die Lehrerin des Kurses weiter und ich ließ mich auf dieses Spiel ein.
„Provoziert keinen Eindruck, provoziert keine Erinnerung. Sucht nichts. Lasst das Bild Euch finden.“
In diesem Moment hörte ich den Klang von Dads Spieluhr und ich sah die fiedelnde Fee und wie sie sich im Kreis drehte. Ja, ich sah sogar ihr Gesicht. Es war meinem eigenen ganz nah, so als würde sie mich betrachten und ich stünde auf dem sich drehenden Karussell.
Darauf hatte es die Kunsterzieherin und Meisterin irgendeiner fernöstlichen spirituellen Yoga-Tantra-Vertiefungslehre abgesehen - ein kräftiger Eindruck, ein Gedankenflash aus dem Nichts. Diesen Eindruck, sofern erfahren, sollten wir erst mit dem Herzen festhalten und ihn dann aufs Papier bannen.
Meine linke Hand zeichnete das Gesicht der Fee. Meine linke Hand wusste, dass sie nicht links oben, in der Ecke anfangen musste, um zu zeichnen, so wie es die meisten Rechtshänder tun; stattdessen eroberte sie das Gesicht der Fee von der Mitte aus und malte wie in Trance.
„Wow. Wer ist das denn?“
Ich bekam erst gar nicht mit, dass Eric mit mir über mein werdendes Bild sprach.
„Na sag schon. Ist das deine Freundin? Nee, dazu ist das Mädel auch zu jung. Warum hast Du eigentlich keine Freundin?“
„Halt die Klappe, stell Dir nicht irgendwelche Fragen und mach mal einen Punkt! Ich weiß nicht, wer das ist. Das Gesicht war auf einmal da. Es war das Gesicht einer Fee.“
Eric sagte nichts mehr und sah mich mit großen Augen an. Langsam wurde mir bewusst, was er da wahrscheinlich missverstand und ich entschloss mich, ihm die Geschichte von der Spieluhr zu erzählen. Aber irgendwie wollte er nicht verstehen.
„Du erzählst mir, Dein Vater hat gerne mit einer Spieluhr gespielt? Und das Gesicht hier, ist das Gesicht einer Figur von der Spieluhr? Was für Drogen nimmst Du?“
„Du hast doch echt keine Ahnung. Das ist es, woran ich mich erinnere und nun ist Feierabend. Schnauze voll!“
Madame Yoga rauschte herbei und bat uns, doch nicht so aggressiv zu sein; wir würden die anderen stören.
„Kein Problem, ich wollte sowieso gerade gehen.“, murmelte ich. Kurz entschlossen raffte ich mein Zeug zusammen, rollte das Bild ein und verließ die Szenerie.
Schlechtgelaunt verbarrikadierte ich mich in meinem Zimmer in der WG. Nein, ich wollte nichts essen und ja, ich werde meinen Putzdienst morgen antreten. Ich war von den anderen so genervt wie damals, als mir jede Begegnung mit einem Menschen wie eine Prüfung erschienen war, wo ich mich immer zusammenreißen musste, um zu funktionieren. Ich atmete tief durch. Warum, zum Teufel, hatte ich mich so über Eric geärgert? Nebenbei holte ich das Bild aus der Tasche, rollte es auf, sah es an und wusste, dass Eric Recht und ich mich kindisch benommen hatte. Das Gesicht einer Puppe, einer Figur, sieht anders aus. Aber wer war sie?
IV.
„Du siehst schlecht aus. Hast viel zu tun, gell?“
„Ja, es ist anstrengend.“, vor allem, wenn man sich - wie ich - nicht ausreichend mit dem beschäftigt hatte, womit ich mich eigentlich hätte beschäftigen sollen. Aber das sagte ich nicht. Noch nicht. Nach dem Projekt Selbsterfahrung durch Malen und Zeichnen hatte ich angefangen, mich mehr mit der Kunst und der Malerei zu beschäftigen als mit der Architektur und ihren zähen Grundlagen. Aus der Spielerei wurde Hobby, dann Leidenschaft, schließlich sogar – durch lukrative Nebenjobs - Broterwerb.
Fakt war: Ich hatte keine Lust mehr auf Papiermodelle und hektische Bastelabende in letzter Minute, um Abgabetermine einzuhalten. Der Architekt und Baumeister in mir war gestorben, aber meine Bewerbungsmappe für einen Platz in einer Kunstakademie war stattdessen kontinuierlich gewachsen.
An einem sonnigen Sonntagnachmittag wollte ich Mum bei Kaffee und Kuchen in meine neuen Pläne einweihen. Dazu hatte ich die Mappe mitgenommen, wartete aber auf eine passende Gelegenheit.
Mum schenkte mir noch mal Kaffee nach und bemerkte ganz beiläufig:
„Nun zeig schon her, was Du da in Deiner Mappe hast. Du hast doch was auf dem Herzen?“
„Danke, Mum. Ich habe angefangen, zu malen und zu zeichnen. Das wollte ich Dir zeigen.“
Mum war nicht erfreut. Sie war skeptisch. Ich machte auf dem Tisch etwas Platz und legte ihr meine Mappe hin.
„Schau es Dir bitte an, bevor Du was sagst.“
„Na, dann wollen wir doch mal sehen.“, sagte sie, löste die Haltegummis und wendete mit leicht zitternder Hand den Deckel. Mir fiel mit einem Mal auf, dass Mutter in den letzten drei Jahren mindestens zehn Jahre älter geworden war. Sie war eine alte Frau geworden. Ich war wie vor den Kopf gestoßen und nahm erst gar nicht wahr, wie sie auf die von mir geplante Überraschung reagierte. Denn das erste Blatt in der Mappe war ein Portrait von ihr. Zu jung, wie ich jetzt dachte.
Sie hatte ihre rechte Hand vor dem Mund und sie weinte leicht vor Rührung, so sehr gefiel ihr, was sie sah.
„Ist das schön. Danke. Und so gut gezeichnet.“, und ähnliches mehr flüsterte sie. Ihre Skepsis – was ihr Sohn da wohl mitgebracht hatte – war Rührung und Begeisterung gewichen. Als sie die Signatur bemerkte: „Meiner Mum.“, war es ganz um sie geschehen. Sie brauchte einige Minuten, um sich wieder zu sammeln und zu fangen.
Sie blätterte. Wir plauderten. Diskutierten. Ob ich mir denn dieses Mal sicher sei? Ich nickte und gab mich auch selbstkritisch.
Die Landschaftsmalereien beeindruckten sie nicht so sehr wie die Zeichnungen, die ich von meinen Mitbewohnern angefertigt hatte. Sie wollte wissen, wie alle heißen und interessierte sich vor allem für die Portraits meiner Mitbewohnerinnen. Wahrscheinlich hoffte Sie so, einen Blick auf ihre zukünftige Schwiegertochter werfen zu können.
„Ich hätte nie gedacht, dass Du Gesichter so lesen kannst. Ich hatte schon vermutet, dass Du Dich nur mit Steinen und Dingen beschäftigen kannst. Und jetzt das.“
„Du bist also einverstanden, wenn ich nochmal von vorn beginne, Anne?“
Mit ihren großen, runden Augen und einem strahlenden Lächeln nickte sie mir zu, legte das vorletzte Blatt zur Seite und erstarrte. Jeglicher Frohsinn, jegliche Zuversicht, alle Liebe war mit einem Schlag aus ihrem Gesicht gewichen, als sie das letzte Bild sah.
„Mum?“
Sie reagierte nicht. Ich ließ ihr etwas Zeit.
„Mutter?“, wiederholte ich zärtlich.
Sie riss, als ob ich einen Befehl gegeben hätte, den Kopf zu mir hoch. Mit einem mir fremden Gesicht starrte sie mich an.
„Du wagst es!“, schrie sie mich an. „Du wagst es! Du!?“
„Mum! Was ist los?“, rief ich und hielt ihre Arme fest in meinen Händen. Sie war drauf und dran gewesen, mir ins Gesicht zu schlagen oder es mir zu zerkratzen.
Statt mir zu antworten, spuckte sie mich an, riss sich los, floh in ihr Schlafzimmer und verbarrikadierte sich.
Sie heulte wie ein Hund und brüllte immer wieder, ich solle abhauen, ich solle mich nie wieder blicken lassen. Ich sei ein undankbares Balg und hätte nichts verstanden.
Minuten? Stunden? Keine Ahnung, wie lange ich noch geblieben war, wie lange ich versucht hatte, Anne irgendein vernünftiges Wort zu entlocken oder zu hoffen, dass sie wieder die Tür öffnete und mich nach Hause ließ. Denn sie war die einzige Heimat, die ich hatte. Aber sie war wie von Sinnen, am Ende sang sie sogar Kirchenlieder. Und wenn ich es wagte, vor ihrer verschlossenen Tür kniend, einzustimmen, dann schrie sie wie am Spieß und keifte, ich solle das Maul halten, ich hätte für alle Zeit mein Recht verwirkt, der Gnade des Herrn teilhaftig zu werden. Ich hätte mich doch schon längst anders entschieden.
„Geh endlich weg! Geh weg.“, das war noch das Vernünftigste, was sie mir durch die verschlossene Tür zu sagen hatte. Irgendwann ging ich dann auch.
V.
Ein paar Tage später sah ich mich erstmals wieder bewusst im Spiegel an. Ich sah fürchterlich aus. Bis auf Eric hatten alle Bewohner der WG einen großen, aber rein zufälligen Bogen um mich herum gemacht. Das heißt, sie waren froh, wenn sie es vermeiden konnten, mich zu sehen oder mit mir reden zu müssen.
Eric wagte es trotzdem, weiter nach meinem Befinden zu fragen, obschon ich ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er für sein Seelenheil ein anderes Robbenbaby retten müsse. Aber statt beleidigt zu sein, hakte er weiter nach.
Bald gab ich nach und erzählte ihm die Geschichte, die sich mit meiner Mum zugetragen hatte, und natürlich wollte er das letzte Bild in der Mappe sehen.
„Das kenne ich doch, oder nicht? Das ist das von damals aus dem Kurs, oder nicht?“, fragte er mich leicht triumphierend.
„Ja. Genau das ist es.“, antwortete ich etwas kleinlaut.
„Ich finde, Du solltest rauskriegen, wer das ist. Vielleicht fragst Du mal Deine Oma oder so? Die lebt doch noch, oder? Hast Du mit mir eigentlich jemals über Deine Familie gesprochen?“
„Eric, danke! Aber Du hast Recht. Ich werde etwas unternehmen.“
Ingeborg aufzusuchen, kam mir natürlich nicht in den Sinn, aber als Eric darüber nachgedacht hatte, wer mir helfen könnte, das Geheimnis der Fee zu lüften, war mir spontan wieder Kuki eingefallen.
Die Recherche nach Kuki war leichter als ich gedacht hatte. Seinen richtigen Namen kannte ich zwar nicht, aber sein Spitzname war selbst den Redaktionen ein Begriff, für die er nicht gearbeitet hatte. Kuki war schon in Rente, aber noch umtriebig genug, dass er häufig in seiner alten Redaktion vorbeischaute, in der Hoffnung, doch noch die ein oder andere Geschichte platzieren zu können. So erhielt Kuki relativ zügig die Nachricht, dass der Sohn einer alten Freundin ihn sprechen wolle.
Mein Telefon klingelte. Ich nahm ab.
„Was gibt’s?“, fragte mich eine ziemlich verrauchte, alte Stimme. Kein Zweifel: Kuki.
„Das ist kompliziert.“
„Versuchs in drei Sätzen.“
„Ich habe meiner Mum ein Bild gezeigt, sie ist vollkommen ausgeflippt und hat mich verstoßen.“
„Was für ein Bild?“
„Eine Zeichnung. Genau genommen ist es eine Portraitzeichnung.“
„Kannst Du mir das Bild faxen?“
Ich konnte. Aber ich musste länger als eine Woche auf eine Antwort warten. Dann endlich rief er an.
„Wir müssen uns treffen.“, begann er ohne Umschweife.
„Weißt Du, wer sie ist?“, fragte ich.
„Wir treffen uns, wir reden und alles andere ergibt sich.“
„Und wo treffen wir uns ?“
Eine halbe Stunde früher als ausgemacht war ich am Treffpunkt. Noch etwas früher war ich in meinem alten Dorf angekommen und hatte mich schon ausreichend gewundert, wie klein alles geworden war. Wie fremd mir alles erschien, die Schule, die Häuser und erst recht der eh nur selten von mir besuchte Spielplatz. Auch die Straßen schienen mir schmal und klein zu sein.
Angenehm überrascht war ich, als ich Ingeborgs Haus entdeckte. Es war nicht nur klein, es war mickrig. Ich fragte mich, ob heute Ingeborg anfangen würde, zu stottern, wenn ich ihr plötzlich begegnete? Sie müsste noch leben, denn auf ihrer Beerdigung war ich nicht gewesen. Aber der Anflug von später Genugtuung verflog schnell wieder und statt dessen fragte ich mich, was aus der kleinen, alten Frau wohl geworden ist?
Von Ingeborgs Bleibe sind wir jeden Sonntag zur Kirche gegangen. An der Dorfkneipe vorbei, die auch heute wieder zum Kegelabend rief, und ein Stück den kleinen Hügel hinauf, erreichten wir die irdischen Himmelspforten. Als Magnet, Mittelpunkt und Monstrosität ragte das romanische Prachtstück aus der dörflichen Optik hervor. Nein, lächerlich erschienen mir das Schiff und der Turm nicht, aber ich empfand weder Ehrfurcht noch flößten sie mir einen Schrecken ein. Kurz schaute ich hinein, ob Jesus noch am Kreuz hängt und fühlte mich bestätigt, dass hier alles noch am selben Platz stand und hing.
Kurz nach meiner Stippvisite am Altar, befand ich mich am Treffpunkt. Zu früh und ohne Idee, warum Kuki mich ans Grab meines Vaters bestellt hatte, saß ich auf einer Bank vis-a-vis dem vergrabenem Vater. Ich hatte ihn nicht vermisst. Er war nur ein Bild, eine Figur, eine meist stumme Erinnerung. Und während ich mich auf der Bank sitzend fragte, welche Empfindung ich angesichts seines Grabes haben sollte, schlossen sich plötzlich alte, aber kräftige Hände von hinten um meine Schultern.
„Wurzeln. Jedes Leben, jedes Schicksal hat Wurzeln. Da ist Deine Wurzel.“ Kukis Stimme war noch rauer als am Telefon. Ich wollte mich umdrehen, doch behände und mit Druck drehte er meinen Kopf wieder Richtung Grab.
„Da liegt Paul. Und Paul ist Dein Vater. Aber Anne ist nicht der Name Deiner Mutter.“
Ich weiß nicht, wie er meine Hände, meinen Kopf weiterhin kontrollierte, denn ich wollte einfach aufstehen, Kuki auslachen und anspucken, aber seine Hände waren überall und hielten mich und meinen Blick starr auf Dads Grab gerichtet.
„Anne hat alles für Dich geopfert. Sie stand immer an Deiner Seite; sie hat sich für Dich verleugnet. Aber wenn Du nach Deinen unmittelbaren Wurzeln fragst, dann gehört Anne nicht dazu.“
„Sag mir nicht, wer meine Mutter ist, sag mir, wer das auf dem Bild ist, oder lass es.“, erwiderte ich zornig.
„Deine Mutter und Deine Schwester.“, antwortete er knapp und ließ mich los. „Ich konnte es Dir nur hier... ich hätte es nicht übers Herz gebracht, wenn Du mich angesehen hättest.“
Eigentlich wollte ich aufspringen, wegrennen, flüchten oder wenigstens dem alten Sack eins in die Fresse hauen. Aber so, als hätte ich ein Bleigewicht am Hintern, eine unsichtbare Fixierung am Körper, blieb ich bewegungslos sitzen. Meine Schwester? Meine Mutter? Ich glaubte Kuki. Aber ich verstand es nicht und trotzdem wurde mir speiübel. Ich konnte meinen Blick nicht mehr von Pauls Grabstein lösen. Dieser Endstein war der letzte Anker meiner Identität Ich hätte mir einen lebendigeren und angenehmeren gewünscht.
„Was ist mit ihr passiert?“, krächzte ich nach einiger Zeit und war froh, dass Kuki immer noch hinter mir stand und ich ihn nicht ansehen musste. “Nein, warte, warte. Vorher will ich wissen, wie sie heißt und wie alt sie ist?“
„Auf jeden Fall war sie nicht alt genug. Wiebke war dreizehn, als sie Dich geboren hatte. Geschwängert hat er sie, als sie zwölf war. Missbraucht, seit sie gehen konnte.“ Der alte Mann hatte jegliche Selbstsicherheit verloren.
„Woher weißt Du das alles?“
„Als Paul seinen Unfall gehabt hatte, begann ich zu recherchieren. In so einem Dorf mit seinen bummelig siebentausend Seelen bleibt nichts verborgen. Aber es wird auch nicht alles öffentlich. Alles hintenrum und durch die kalte Küche oder mal eine besoffene Bemerkung am Dorftresen. Ich habe zugehört und mir den Unfall dann noch mal ganz genau angesehen. Es war kein Unfall. Du solltest meine Story werden.“
“Kein Unfall? Hat Anne ihn umgebracht?“
„Ja.“
Mein Kopf war leer. Ein unbeschriebenes Blatt und doch vollgeschmiert mit Sudeleien, schließlich zerknüllt und in den Papierkorb befördert. Ich war noch nicht mal eine Story. Ich war gar nichts.
Aber Kuki erzählte mir mehr. Er erzählte mir seine Story, ob ich sie hören wollte oder nicht. Im Angesicht des Grabes empfand ich nur noch, dass ich keine Geschichte mehr hatte. Ich horchte nur kurz auf, als Kuki erwähnte, dass Paul übrigens ein Linkshänder gewesen ist. Und Anne nach Pauls Tod ganz rigoros meine Händigkeit umstellte, um nicht auch dadurch an Paul erinnert zu werden.
Wiebke sei mit sechzehn abgehauen, einen Tag nach ihrem Geburtstag. Er wisse nicht mehr, wie die Eltern Wiebkes Wegbleiben im Dorf erklärt hatten, aber er wisse aus seinen damaligen Recherchen noch genau, dass ihm immer alle unter vier Augen von der armen Anne und dem schlimmen Paul erzählt hatten:
„Schlimm. Ganz schlimm. Das hat die Anne nicht verdient. Nee, das hat sie nicht verdient. Der Paul, der taugte doch nichts. Aber Du steckst da ja nicht drin, nicht? Und böses Blut will hier keiner und der Paul hat ja nun bekommen, was er verdient hat, nicht?“, zitierte Kuki mit angewidertem Ton nicht nur jene Menschen, die ich aus Schule und Kirche gekannt hatte. Ja, Kuki war besser im Bilde.
„Warum hast Du diese ganze Story nicht als Reporter veröffentlicht? Wolltest Du auch kein böses Blut?“; den Sarkasmus meiner Frage überhörte er.
„In gewisser Weise, ja. Vielleicht hatte ich mich in Deine Mutter verliebt? Auf jeden Fall tatet ihr mir leid.“ Seine Stimme wurde wieder brüchig.
„Außer ihrem Namen, ihrem Alter und dem Zeitpunkt ihres Abschieds: Weißt Du noch irgendetwas über Wiebke?“
„Nein. Wenn ich Anne – so wie Du jetzt - nach Wiebke fragte, machte sie gleich zu. Ich glaube, sie war und ist eifersüchtig auf Wiebke. Das ist krank, das weiß ich, aber ich kann mir ihr Verhalten sonst nicht erklären. Nur durch einen Zufall hatte ich ein paar Fotos von Wiebke bei Euch gefunden. Ansonsten hat Anne alle vernichtet.“
„Außer dem Bild, das ich in meinem Kopf habe.“, antwortete ich nach einer Pause. „Danke, Kuki und tu mir jetzt einen Gefallen: Geh bitte.“
Nach langer Zeit stummer Zwiesprache mit meiner verbliebenen Vergangenheit – dem Grabstein und einem Bild namens Wiebke in meinem Kopf, also meinen Wurzeln, wie der Journalist es ausgedrückt hatte - stand ich mit dem Entschluss auf, mein Leben hinter mir zu lassen. Über die Schulter blickte ich zurück, sah nur noch den Mond und zeigte ihm den Mittelfinger.
VI.
Es lässt sich nicht leugnen: Ich bin ein Linkshänder. Also blieb ich dabei, meine linke Hand zu benutzen und ignorierte die rechte. Egal für welche ich mich entschieden hätte, jede Entscheidung schien fraglich. Denn die rechte Hand war Annes, die linke war Pauls. Aber ich bin Linkshänder, also habe ich Annes Umpolung revidiert.
Mittlerweile, gut und gerne fünf Jahre nach dem Friedhofsbesuch, weiß ich, dass eine Umschulung der Händigkeit wie eine Vergewaltigung ist. Es hat erhebliche Konsequenzen für die Persönlichkeit und die Identität. Aber so was scheint ja in der Tradition meiner Gene zu liegen: Vergewaltigung und Missbrauch.
Immerhin bin ich freischaffender Künstler geworden, habe mir auf dem Amt für geringes Entgelt einen Namen gekauft, unter welchem ich nicht nur meine Bilder veräußere, sondern auch den Rest meines Lebens bestreite. Der Alias, der Avatar, ist mir zur Krücke bei jedem meiner öffentlichen Schritte geworden.
Aber ich weiß, dass ich nicht dieser Phantasiename bin, dazu bin ich zu sehr der Sohn von diesem Paul. Und das ist leider nicht nur eine Frage der Linkshändigkeit. Sich wie van Gogh das Ohr abzuschneiden, wird mir wahrscheinlich nicht helfen.
Epilog:
Ich las: „Lehnen Sie sich zurück, schließen Sie die Augen und erinnern Sie sich daran, wie Sie heute morgen gefrühstückt haben. Lesen Sie nicht weiter, sondern konzentrieren Sie sich.“
Ich folgte den Anweisungen und sah mich aus der Vogelperspektive von hinten, wie ich am Tisch vor meiner Kaffeetasse saß. Und dann las ich, dass ich genau das sehen würde, aber dieses Bild nie selbst habe sehen können. Es sei eine Illusion, denn mit Sicherheit sei niemand hinter mir gewesen, der diese Aufnahme hätte machen können.
Da fragte ich mich, wer meinen Film, in dem ich der Hauptdarsteller bin, eigentlich dreht? Wer filmt meine Erinnerungen so, als seien sie von einem anderen und suggeriert mir, dass alles ich sei?
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Meine einzige Erinnerung an die Zeit, als ich ein Kleinkind von vielleicht vier Jahren war, ist die, dass Mum mit einem vollbeladenen Tablett in der Hand vorüberging, es schaffte, mir, der ich traumverloren am abgeräumten Esstisch saß und malte, den Wachsmaler von der linken in die rechte Hand zu stecken. Vielleicht hat sie dafür das Tablett auch abgestellt, vielleicht auch Dad angegiftet, er solle mehr auf mich achten, denn vielleicht lag Dad schon satt und rund in seinem Sessel und spielte mit der Spieluhr. Und vielleicht betrachtete er versunken, die sich anmutig und verführerisch auf dem Teller drehende und Geige spielende Fee? Vielleicht.
I.
Sie sagte es mir, als wir in die neu eröffnete Shoppingmall fuhren, um die zur Eröffnung üblichen Sonderangebote auszunutzen. Ich hatte gerade die Schule beendet und war dabei, mich zu entscheiden, wie es weitergehen sollte.
„Mum, wir müssen links abbiegen.“, dirigierte ich sie durch den dichten Verkehr.
Mum nickte und fuhr rechts rum und ich bemerkte, dass ich auch rechts gemeint hatte. Aber wie konnte sie sich so sicher sein, denn wir fuhren in keinem uns bekannten Viertel?
„Das ist alles meine Schuld.“, sagte sie plötzlich, ohne mich anzublicken.
„Was ist deine Schuld?“
„Deine Schwierigkeiten mit links und rechts und so.“
„Was meinst Du?“
„Ich habe Dich umgestellt. Von links auf rechts. Ich hatte gedacht, das würde es Dir einfacher machen.“
„Wovon redest Du?!“
Sie musste vor einer Kreuzung anhalten und blickte zu mir. Sie war nicht den Tränen nahe, aber sie sah mich so an, als wäre ich nicht ihr neunzehnjähriger Sohn, sondern ein völlig Fremder gewesen.
„Von meinen Fehlern rede ich, hörst Du? Es tut mir leid. Ich dachte, dass es in einer Welt, in der vorrangig Rechtshänder leben, einfacher für Dich wäre, wenn Du nicht ständig umdenken müsstest, verstehst Du? Es leichter für dich wäre, wenn Du auch im Uhrzeigersinn ticken würdest.“
„Du meinst richtig rum?“, fragte ich stutzig.
„Ja.“
„Dann bin ich eigentlich andersrum?“, grinste ich sie nach einer kurzen Pause an und war froh, einen Ausweg gefunden zu haben, dieses mir unangenehme und mir von meiner Mum unvermittelt aufgezwungene Thema beenden und das Gespräch in andere Gefilde lenken zu können.
„Blödmann.“, lachte sie mich an. „Du und andersrum – pfff.“
Und bevor Mum zu irgendwelchen Peinlichkeiten aus meiner Vergangenheit ausholen konnte, brach hinter ihr ein Hupkonzert aus. Ich nahm es zum willkommenen Anlass, mich umzudrehen und den nachfolgenden Rumhupern wilde Gesten zu machen und war erleichtert, als wir endlich weiterfuhren.
Wir sprachen nie wieder darüber. Aber in der Nacht jenes Tages, an dem sie mir ihren Fehler gebeichtet hatte, starrte ich meine linke Hand an und fragte mich, was in ihr stecken mochte.
II.
Mir wurde in jener Nacht bewusst, dass linkisch und link Schimpfworte sind und dagegen die rechtschaffenen Begrifflichkeiten stehen. Ich erinnerte mich, weil Mum und ich, als wir noch im Dorf bei Großmutter lebten, jeden Sonntag in die Kirche gingen und viel aus der Bibel und anderen kirchlichen Büchern lasen und singen mussten, dass die Männer rechts und die Frauen links in der Kirche saßen. Wenn ich mir die Bildnisse von der Kreuzigung Jesu in Erinnerung rief, gewahrte ich, dass Jesus immer nach rechts schaute und dort die Besseren standen. Dort war Maria und nicht Johannes, dort war keiner verhüllt oder am Straucheln. Dort war das Licht und nicht der Schatten. Über der linken Schulter des Erlösers aber prangte der Mond und zu seiner Linken, auf der Seite, auf die er nicht sah, führten Höllenknechte Sünder in einen tiefen Schlund.
Ich erinnerte mich, dass Großmutter Ingeborg immer tadelnd ihre rechte Augenbraue hochzog, wenn ich sie mit der linken Hand begrüßen wollte. Wir waren bald nach Dads Unfalltod – ich war gerade fünf Jahre alt geworden, als es passiert war – bei Großmutter eingezogen und blieben lange bei ihr wohnen.
Generell war Großmutter nicht amüsiert, wenn ich mit meiner Linken agierte. Wenn Ingeborg ihren Mund zu einem Strich zusammenzog, dabei die Glieder ihrer schweren Perlenkette durch ihre faltigen Finger gleiten ließ und insgesamt zu einer Statue der Strenge gefror, bekam ich eine undefinierte, fürchterliche Angst vor dieser Frau und fing wieder an zu stottern.
Meine Mum schämte sich lange wegen meiner Stotterei. Schnell hieß es im Dorf, ich sei zurückgeblieben. Was sich eben auch an meiner Sauklaue und Rechtschreibschwäche manifestierte. Ich wusste es besser und arbeitete an mir. Ich wollte nicht, dass Mum sich für mich schämte. Ich behielt zwar meine krakelige Schrift, aber ich bekam es hin, nicht mehr zu stottern.
Aber wenn ich vor Ingeborg strammstehen musste, weil sie mich bei irgendetwas ertappt hatte und sie mich lange anschwieg und ich nur das Aneinanderklicken ihrer Perlen und das Ticken der großen Wanduhr hörte, bis sie mich endlich fragte, was ich mir denn dabei nun wieder gedacht hätte, da konnte ich nicht anders, als stotternd zu antworten. Aber es war kein Stottern aus Verlegenheit. Es war der Druck, richtig funktionieren zu müssen, den mich die alte Frau immer und immer wieder spüren ließ. Sie aber schien das zu amüsieren.
Allerdings war keiner von uns beiden mehr amüsiert, als – da war ich zwölf - sie plötzlich in mein Zimmer gekommen war, während ich dabei war an mir herumzuspielen. Ich war wie erstarrt und wagte keinen Muskel zu bewegen. Hätte sie länger in der Tür gestanden, wäre ich wahrscheinlich erstickt.
„DAS solltest Du wenigstens mit links machen!“, fauchte sie und ließ die Tür wieder krachend ins Schloss fallen.
Die nächsten Tage und Wochen war ich wie paralysiert und schämte mich in Grund und Boden. Mum realisierte wohl, wie schlecht es mir ging und dass ich Großmutter, wo ich nur konnte, auswich und so war es ein glücklicher Tag, als wir ein gutes halbes Jahr später nach diesem Vorfall Ingeborg wieder verließen und unsere Zelte in der Stadt aufschlugen.
Mum hatte über einen Bekannten, Onkel Kuki, einen Job in einer Zeitungsredaktion als Schreibhilfe bekommen. Wir hatten Großmutter seither nie wieder gemeinsam besucht. Ich glaube, sie hat ihre Mutter danach sowieso nur noch selten alleine gesehen oder gesprochen.
Ich war und blieb auch in der Stadt der verbissene, kleine Junge. Ein Eigenbrötler mit wenigen Freunden, eher Bekannten als Freunden. Hin und wieder unternahm man etwas. Für Kino konnte ich mich immerhin begeistern. Alles andere, wo ich hätte mehr reden müssen – heute sagt man small talk dazu - war mir aber ein Graus. Insgesamt tat mir die Stadt aber gut. Erst war ich verstört von der Vielzahl der Menschen, aber ich begriff schnell, dass die allermeisten, denen ich begegnete, mich gar nicht wahrnahmen und ebenso wenig Interesse wie ich daran hatten, Kontakt zueinander aufzubauen. Nachdem ich das begriffen hatte, ging es mir besser.
Ich schaffte den Sprung aufs Gymnasium und ich frönte einem Hobby: Aktionspotentiale. Ich liebte es, die Steinchen in von mir erdachten Welten aufzubauen und durch meine selbst konstruierten Apparaturen zu führen. Es bedarf einer ruhigen Hand und Präzision. Zwar ermüdete ich schnell beim Bauen, dass ich mit rechts erledigte, aber der optische und akustische Genuss, wenn die Steinchen in einem gleichbleibenden Stakkato fielen und die Befriedigung, wenn alle Steine gefallen waren, die waren mir jede Mühe Wert.
Mum hielt es für extrem nervend, in einer kleinen Wohnung solche Domino-Landschaften aufzubauen und für total bescheuert, sein Wochenende damit zu versauen. Aber sie steuerte die teuren Steine bei und baute – unter genauester Anweisung von mir – auch selbst mit.
Sie hatte es irgendwann aufgegeben, mich aus meinem Schneckenhaus rausziehen zu wollen. In meiner Pubertät hatten wir uns ein paar Mal über mein angeblich kaum zu ertragendes Desinteresse an allem Menschlichen gestritten. Aber bald schon kapitulierte sie: „Du bist so ein Sturkopf!“ und „ein elender, kleiner Rechthaber“. Damit beendete sie frustriert ihre Erziehungsversuche.
Sie hatte viel auszustehen, als ich älter wurde. Daher versuchte ich stets, meine Mum nicht noch durch schulische Scherereien zu belasten. Ich wollte gut funktionieren. Es langte sogar zu einer guten Matura und unter Mitschülern und Lehrern zum zweifelhaften Ruf eines nervtötenden Diskutanten, der, wenn auch selten, aber wenn, dann beharrlich, immer und immer wieder auf einem einzigen Punkt herumreiten konnte. „Der Ja-Aber“, so nannten sie mich gerne. Aber es ging mir halt gegen den Strich, wenn eine Ausgangsthese ungenau formuliert und eine Diskussion schon dadurch falsch begonnen worden war. Entsetzlich.
Aber mit Rechthaberei war es nun vorbei. Auf einmal war ich kein Rechthaber mehr, sondern ein Linkshänder geworden und mir fielen diese Kleinigkeiten an mir auf: Außer bei unserer Zeit bei Ingeborg, tauschte ich beim Essen sofort Messer und Gabel an ihrem Platz. Oder ich nahm Scheren grundsätzlich in die linke Hand. Zwar spielte ich kaum Fußball, aber wenn, dann spielte ich auf der linken Seite und warf mir jemand etwas zu, fing ich es mit meiner starken Hand auf: der linken. Die Linke war auch stets meine Schlaghand.
All diese Kuriositäten gingen mir in jener Nacht durch den Kopf. Vielleicht nicht so konkret, aber vieles, was ich oder andere als Spleen oder Kuriosität abgetan hatten, schüttelte mich nun durch. Ich sah meine linke Hand an und fragte mich, wie viel von mir in ihr stecken mochte und was noch vergraben war. Schließlich machte ich das Licht aus und fand keine Ruhe mehr.
III.
Am nächsten Tag fasste ich einen heimlichen Entschluss: Von nun an wollte ich alles mit links machen. Nach nur wenigen Wochen stellte ich fest, welche Fortschritte ich gemacht hatte. Meine Schrift entwickelte und verbesserte sich. Mit jeder Zeile, die ich mit links schrieb, stieg mein Selbstbewusstsein. Jede Zeile, die ich schrieb, veränderte, ja befreite mich. Es ging wie von selbst, dass die Menschen mir auf einmal näher waren als je zuvor. Ich konnte mit ihnen über alles Mögliche reden und in einer Diskussion, die ich früher nur über Dinge, aber nie über Menschen geführt habe, verzichtete ich freiwillig auf das letzte Wort. Der Witz war, dass Anne überhaupt nicht mitbekam, dass ich dabei war meine Händigkeit wieder zurückzustellen. Natürlich lag es auch daran, dass ich wenige Monate nach meinem Entschluss, einen Studienplatz erhalten hatte und in eine WG in einer anderen Stadt gezogen war. So besuchte ich sie nur noch hin und wieder. Sie war aber glücklich, dass ich endlich aus mir herausgefunden hatte. Warum das so war, wollte sie nicht erkennen. Allerdings schockte ich sie noch einmal, als ich kurz darauf auch aus der Kirche austrat. Sie hielt es einen Monat lang durch, mich zu verstoßen, danach nahm sie den Hörer ab und redete mit mir und ich durfte sie auch wieder besuchen.
Ich studierte zu dieser Zeit Architektur. Das Fach erschien mir damals goldrichtig zu sein. Es erforderte Pedanterie, Perfektionismus im Detail und war mathematisch anspruchvoll. Ich liebte den Bauhausstil und seinen Funktionalismus. Alles Überflüssige war dort gestrichen. Je mehr ich aber meinem neuen Steckenpferd – dem linken Leben – frönte, desto häufiger langweilte mich auch das Alte. Neugierig betrat ich neue Welten und war offener, etwas auszuprobieren.
So nahm mich eines Tages ein Kommilitone zu einem Zeichenkursus der Volkshochschule mit, der neben Zeichenübungen auch Selbsterkenntnis versprach. Natürlich hatte ich in meiner Vergangenheit schon gemalt und gezeichnet. Recht passabel sogar, wobei ich mich ausschließlich auf das Abzeichnen konzentriert und mich für perspektivische Raffinessen interessiert hatte.
Zwar hatte ich eigentlich komplett auf links umgestellt, aber bei den Zeichnungen in den Seminaren und Übungen für das Architekturstudium vertraute ich – weil es um Exaktheit ging - weiterhin der rechten. Der Volkshochschulkurs schien mir eine gute Gelegenheit zu sein, meine linke Hand weiter zu trainieren, um sie bald auch an der Uni einsetzen zu können.
„Schließt bitte die Augen. Versucht alles um Euch herum zu vergessen. Macht Euren Kopf leer. Lasst Euch fallen. Leere ist der Beginn allen Schaffens. Wir wollen einen leeren Kopf, ein leeres Blatt.“ Immer monotoner werdend sprach die Lehrerin des Kurses weiter und ich ließ mich auf dieses Spiel ein.
„Provoziert keinen Eindruck, provoziert keine Erinnerung. Sucht nichts. Lasst das Bild Euch finden.“
In diesem Moment hörte ich den Klang von Dads Spieluhr und ich sah die fiedelnde Fee und wie sie sich im Kreis drehte. Ja, ich sah sogar ihr Gesicht. Es war meinem eigenen ganz nah, so als würde sie mich betrachten und ich stünde auf dem sich drehenden Karussell.
Darauf hatte es die Kunsterzieherin und Meisterin irgendeiner fernöstlichen spirituellen Yoga-Tantra-Vertiefungslehre abgesehen - ein kräftiger Eindruck, ein Gedankenflash aus dem Nichts. Diesen Eindruck, sofern erfahren, sollten wir erst mit dem Herzen festhalten und ihn dann aufs Papier bannen.
Meine linke Hand zeichnete das Gesicht der Fee. Meine linke Hand wusste, dass sie nicht links oben, in der Ecke anfangen musste, um zu zeichnen, so wie es die meisten Rechtshänder tun; stattdessen eroberte sie das Gesicht der Fee von der Mitte aus und malte wie in Trance.
„Wow. Wer ist das denn?“
Ich bekam erst gar nicht mit, dass Eric mit mir über mein werdendes Bild sprach.
„Na sag schon. Ist das deine Freundin? Nee, dazu ist das Mädel auch zu jung. Warum hast Du eigentlich keine Freundin?“
„Halt die Klappe, stell Dir nicht irgendwelche Fragen und mach mal einen Punkt! Ich weiß nicht, wer das ist. Das Gesicht war auf einmal da. Es war das Gesicht einer Fee.“
Eric sagte nichts mehr und sah mich mit großen Augen an. Langsam wurde mir bewusst, was er da wahrscheinlich missverstand und ich entschloss mich, ihm die Geschichte von der Spieluhr zu erzählen. Aber irgendwie wollte er nicht verstehen.
„Du erzählst mir, Dein Vater hat gerne mit einer Spieluhr gespielt? Und das Gesicht hier, ist das Gesicht einer Figur von der Spieluhr? Was für Drogen nimmst Du?“
„Du hast doch echt keine Ahnung. Das ist es, woran ich mich erinnere und nun ist Feierabend. Schnauze voll!“
Madame Yoga rauschte herbei und bat uns, doch nicht so aggressiv zu sein; wir würden die anderen stören.
„Kein Problem, ich wollte sowieso gerade gehen.“, murmelte ich. Kurz entschlossen raffte ich mein Zeug zusammen, rollte das Bild ein und verließ die Szenerie.
Schlechtgelaunt verbarrikadierte ich mich in meinem Zimmer in der WG. Nein, ich wollte nichts essen und ja, ich werde meinen Putzdienst morgen antreten. Ich war von den anderen so genervt wie damals, als mir jede Begegnung mit einem Menschen wie eine Prüfung erschienen war, wo ich mich immer zusammenreißen musste, um zu funktionieren. Ich atmete tief durch. Warum, zum Teufel, hatte ich mich so über Eric geärgert? Nebenbei holte ich das Bild aus der Tasche, rollte es auf, sah es an und wusste, dass Eric Recht und ich mich kindisch benommen hatte. Das Gesicht einer Puppe, einer Figur, sieht anders aus. Aber wer war sie?
IV.
„Du siehst schlecht aus. Hast viel zu tun, gell?“
„Ja, es ist anstrengend.“, vor allem, wenn man sich - wie ich - nicht ausreichend mit dem beschäftigt hatte, womit ich mich eigentlich hätte beschäftigen sollen. Aber das sagte ich nicht. Noch nicht. Nach dem Projekt Selbsterfahrung durch Malen und Zeichnen hatte ich angefangen, mich mehr mit der Kunst und der Malerei zu beschäftigen als mit der Architektur und ihren zähen Grundlagen. Aus der Spielerei wurde Hobby, dann Leidenschaft, schließlich sogar – durch lukrative Nebenjobs - Broterwerb.
Fakt war: Ich hatte keine Lust mehr auf Papiermodelle und hektische Bastelabende in letzter Minute, um Abgabetermine einzuhalten. Der Architekt und Baumeister in mir war gestorben, aber meine Bewerbungsmappe für einen Platz in einer Kunstakademie war stattdessen kontinuierlich gewachsen.
An einem sonnigen Sonntagnachmittag wollte ich Mum bei Kaffee und Kuchen in meine neuen Pläne einweihen. Dazu hatte ich die Mappe mitgenommen, wartete aber auf eine passende Gelegenheit.
Mum schenkte mir noch mal Kaffee nach und bemerkte ganz beiläufig:
„Nun zeig schon her, was Du da in Deiner Mappe hast. Du hast doch was auf dem Herzen?“
„Danke, Mum. Ich habe angefangen, zu malen und zu zeichnen. Das wollte ich Dir zeigen.“
Mum war nicht erfreut. Sie war skeptisch. Ich machte auf dem Tisch etwas Platz und legte ihr meine Mappe hin.
„Schau es Dir bitte an, bevor Du was sagst.“
„Na, dann wollen wir doch mal sehen.“, sagte sie, löste die Haltegummis und wendete mit leicht zitternder Hand den Deckel. Mir fiel mit einem Mal auf, dass Mutter in den letzten drei Jahren mindestens zehn Jahre älter geworden war. Sie war eine alte Frau geworden. Ich war wie vor den Kopf gestoßen und nahm erst gar nicht wahr, wie sie auf die von mir geplante Überraschung reagierte. Denn das erste Blatt in der Mappe war ein Portrait von ihr. Zu jung, wie ich jetzt dachte.
Sie hatte ihre rechte Hand vor dem Mund und sie weinte leicht vor Rührung, so sehr gefiel ihr, was sie sah.
„Ist das schön. Danke. Und so gut gezeichnet.“, und ähnliches mehr flüsterte sie. Ihre Skepsis – was ihr Sohn da wohl mitgebracht hatte – war Rührung und Begeisterung gewichen. Als sie die Signatur bemerkte: „Meiner Mum.“, war es ganz um sie geschehen. Sie brauchte einige Minuten, um sich wieder zu sammeln und zu fangen.
Sie blätterte. Wir plauderten. Diskutierten. Ob ich mir denn dieses Mal sicher sei? Ich nickte und gab mich auch selbstkritisch.
Die Landschaftsmalereien beeindruckten sie nicht so sehr wie die Zeichnungen, die ich von meinen Mitbewohnern angefertigt hatte. Sie wollte wissen, wie alle heißen und interessierte sich vor allem für die Portraits meiner Mitbewohnerinnen. Wahrscheinlich hoffte Sie so, einen Blick auf ihre zukünftige Schwiegertochter werfen zu können.
„Ich hätte nie gedacht, dass Du Gesichter so lesen kannst. Ich hatte schon vermutet, dass Du Dich nur mit Steinen und Dingen beschäftigen kannst. Und jetzt das.“
„Du bist also einverstanden, wenn ich nochmal von vorn beginne, Anne?“
Mit ihren großen, runden Augen und einem strahlenden Lächeln nickte sie mir zu, legte das vorletzte Blatt zur Seite und erstarrte. Jeglicher Frohsinn, jegliche Zuversicht, alle Liebe war mit einem Schlag aus ihrem Gesicht gewichen, als sie das letzte Bild sah.
„Mum?“
Sie reagierte nicht. Ich ließ ihr etwas Zeit.
„Mutter?“, wiederholte ich zärtlich.
Sie riss, als ob ich einen Befehl gegeben hätte, den Kopf zu mir hoch. Mit einem mir fremden Gesicht starrte sie mich an.
„Du wagst es!“, schrie sie mich an. „Du wagst es! Du!?“
„Mum! Was ist los?“, rief ich und hielt ihre Arme fest in meinen Händen. Sie war drauf und dran gewesen, mir ins Gesicht zu schlagen oder es mir zu zerkratzen.
Statt mir zu antworten, spuckte sie mich an, riss sich los, floh in ihr Schlafzimmer und verbarrikadierte sich.
Sie heulte wie ein Hund und brüllte immer wieder, ich solle abhauen, ich solle mich nie wieder blicken lassen. Ich sei ein undankbares Balg und hätte nichts verstanden.
Minuten? Stunden? Keine Ahnung, wie lange ich noch geblieben war, wie lange ich versucht hatte, Anne irgendein vernünftiges Wort zu entlocken oder zu hoffen, dass sie wieder die Tür öffnete und mich nach Hause ließ. Denn sie war die einzige Heimat, die ich hatte. Aber sie war wie von Sinnen, am Ende sang sie sogar Kirchenlieder. Und wenn ich es wagte, vor ihrer verschlossenen Tür kniend, einzustimmen, dann schrie sie wie am Spieß und keifte, ich solle das Maul halten, ich hätte für alle Zeit mein Recht verwirkt, der Gnade des Herrn teilhaftig zu werden. Ich hätte mich doch schon längst anders entschieden.
„Geh endlich weg! Geh weg.“, das war noch das Vernünftigste, was sie mir durch die verschlossene Tür zu sagen hatte. Irgendwann ging ich dann auch.
V.
Ein paar Tage später sah ich mich erstmals wieder bewusst im Spiegel an. Ich sah fürchterlich aus. Bis auf Eric hatten alle Bewohner der WG einen großen, aber rein zufälligen Bogen um mich herum gemacht. Das heißt, sie waren froh, wenn sie es vermeiden konnten, mich zu sehen oder mit mir reden zu müssen.
Eric wagte es trotzdem, weiter nach meinem Befinden zu fragen, obschon ich ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er für sein Seelenheil ein anderes Robbenbaby retten müsse. Aber statt beleidigt zu sein, hakte er weiter nach.
Bald gab ich nach und erzählte ihm die Geschichte, die sich mit meiner Mum zugetragen hatte, und natürlich wollte er das letzte Bild in der Mappe sehen.
„Das kenne ich doch, oder nicht? Das ist das von damals aus dem Kurs, oder nicht?“, fragte er mich leicht triumphierend.
„Ja. Genau das ist es.“, antwortete ich etwas kleinlaut.
„Ich finde, Du solltest rauskriegen, wer das ist. Vielleicht fragst Du mal Deine Oma oder so? Die lebt doch noch, oder? Hast Du mit mir eigentlich jemals über Deine Familie gesprochen?“
„Eric, danke! Aber Du hast Recht. Ich werde etwas unternehmen.“
Ingeborg aufzusuchen, kam mir natürlich nicht in den Sinn, aber als Eric darüber nachgedacht hatte, wer mir helfen könnte, das Geheimnis der Fee zu lüften, war mir spontan wieder Kuki eingefallen.
Die Recherche nach Kuki war leichter als ich gedacht hatte. Seinen richtigen Namen kannte ich zwar nicht, aber sein Spitzname war selbst den Redaktionen ein Begriff, für die er nicht gearbeitet hatte. Kuki war schon in Rente, aber noch umtriebig genug, dass er häufig in seiner alten Redaktion vorbeischaute, in der Hoffnung, doch noch die ein oder andere Geschichte platzieren zu können. So erhielt Kuki relativ zügig die Nachricht, dass der Sohn einer alten Freundin ihn sprechen wolle.
Mein Telefon klingelte. Ich nahm ab.
„Was gibt’s?“, fragte mich eine ziemlich verrauchte, alte Stimme. Kein Zweifel: Kuki.
„Das ist kompliziert.“
„Versuchs in drei Sätzen.“
„Ich habe meiner Mum ein Bild gezeigt, sie ist vollkommen ausgeflippt und hat mich verstoßen.“
„Was für ein Bild?“
„Eine Zeichnung. Genau genommen ist es eine Portraitzeichnung.“
„Kannst Du mir das Bild faxen?“
Ich konnte. Aber ich musste länger als eine Woche auf eine Antwort warten. Dann endlich rief er an.
„Wir müssen uns treffen.“, begann er ohne Umschweife.
„Weißt Du, wer sie ist?“, fragte ich.
„Wir treffen uns, wir reden und alles andere ergibt sich.“
„Und wo treffen wir uns ?“
Eine halbe Stunde früher als ausgemacht war ich am Treffpunkt. Noch etwas früher war ich in meinem alten Dorf angekommen und hatte mich schon ausreichend gewundert, wie klein alles geworden war. Wie fremd mir alles erschien, die Schule, die Häuser und erst recht der eh nur selten von mir besuchte Spielplatz. Auch die Straßen schienen mir schmal und klein zu sein.
Angenehm überrascht war ich, als ich Ingeborgs Haus entdeckte. Es war nicht nur klein, es war mickrig. Ich fragte mich, ob heute Ingeborg anfangen würde, zu stottern, wenn ich ihr plötzlich begegnete? Sie müsste noch leben, denn auf ihrer Beerdigung war ich nicht gewesen. Aber der Anflug von später Genugtuung verflog schnell wieder und statt dessen fragte ich mich, was aus der kleinen, alten Frau wohl geworden ist?
Von Ingeborgs Bleibe sind wir jeden Sonntag zur Kirche gegangen. An der Dorfkneipe vorbei, die auch heute wieder zum Kegelabend rief, und ein Stück den kleinen Hügel hinauf, erreichten wir die irdischen Himmelspforten. Als Magnet, Mittelpunkt und Monstrosität ragte das romanische Prachtstück aus der dörflichen Optik hervor. Nein, lächerlich erschienen mir das Schiff und der Turm nicht, aber ich empfand weder Ehrfurcht noch flößten sie mir einen Schrecken ein. Kurz schaute ich hinein, ob Jesus noch am Kreuz hängt und fühlte mich bestätigt, dass hier alles noch am selben Platz stand und hing.
Kurz nach meiner Stippvisite am Altar, befand ich mich am Treffpunkt. Zu früh und ohne Idee, warum Kuki mich ans Grab meines Vaters bestellt hatte, saß ich auf einer Bank vis-a-vis dem vergrabenem Vater. Ich hatte ihn nicht vermisst. Er war nur ein Bild, eine Figur, eine meist stumme Erinnerung. Und während ich mich auf der Bank sitzend fragte, welche Empfindung ich angesichts seines Grabes haben sollte, schlossen sich plötzlich alte, aber kräftige Hände von hinten um meine Schultern.
„Wurzeln. Jedes Leben, jedes Schicksal hat Wurzeln. Da ist Deine Wurzel.“ Kukis Stimme war noch rauer als am Telefon. Ich wollte mich umdrehen, doch behände und mit Druck drehte er meinen Kopf wieder Richtung Grab.
„Da liegt Paul. Und Paul ist Dein Vater. Aber Anne ist nicht der Name Deiner Mutter.“
Ich weiß nicht, wie er meine Hände, meinen Kopf weiterhin kontrollierte, denn ich wollte einfach aufstehen, Kuki auslachen und anspucken, aber seine Hände waren überall und hielten mich und meinen Blick starr auf Dads Grab gerichtet.
„Anne hat alles für Dich geopfert. Sie stand immer an Deiner Seite; sie hat sich für Dich verleugnet. Aber wenn Du nach Deinen unmittelbaren Wurzeln fragst, dann gehört Anne nicht dazu.“
„Sag mir nicht, wer meine Mutter ist, sag mir, wer das auf dem Bild ist, oder lass es.“, erwiderte ich zornig.
„Deine Mutter und Deine Schwester.“, antwortete er knapp und ließ mich los. „Ich konnte es Dir nur hier... ich hätte es nicht übers Herz gebracht, wenn Du mich angesehen hättest.“
Eigentlich wollte ich aufspringen, wegrennen, flüchten oder wenigstens dem alten Sack eins in die Fresse hauen. Aber so, als hätte ich ein Bleigewicht am Hintern, eine unsichtbare Fixierung am Körper, blieb ich bewegungslos sitzen. Meine Schwester? Meine Mutter? Ich glaubte Kuki. Aber ich verstand es nicht und trotzdem wurde mir speiübel. Ich konnte meinen Blick nicht mehr von Pauls Grabstein lösen. Dieser Endstein war der letzte Anker meiner Identität Ich hätte mir einen lebendigeren und angenehmeren gewünscht.
„Was ist mit ihr passiert?“, krächzte ich nach einiger Zeit und war froh, dass Kuki immer noch hinter mir stand und ich ihn nicht ansehen musste. “Nein, warte, warte. Vorher will ich wissen, wie sie heißt und wie alt sie ist?“
„Auf jeden Fall war sie nicht alt genug. Wiebke war dreizehn, als sie Dich geboren hatte. Geschwängert hat er sie, als sie zwölf war. Missbraucht, seit sie gehen konnte.“ Der alte Mann hatte jegliche Selbstsicherheit verloren.
„Woher weißt Du das alles?“
„Als Paul seinen Unfall gehabt hatte, begann ich zu recherchieren. In so einem Dorf mit seinen bummelig siebentausend Seelen bleibt nichts verborgen. Aber es wird auch nicht alles öffentlich. Alles hintenrum und durch die kalte Küche oder mal eine besoffene Bemerkung am Dorftresen. Ich habe zugehört und mir den Unfall dann noch mal ganz genau angesehen. Es war kein Unfall. Du solltest meine Story werden.“
“Kein Unfall? Hat Anne ihn umgebracht?“
„Ja.“
Mein Kopf war leer. Ein unbeschriebenes Blatt und doch vollgeschmiert mit Sudeleien, schließlich zerknüllt und in den Papierkorb befördert. Ich war noch nicht mal eine Story. Ich war gar nichts.
Aber Kuki erzählte mir mehr. Er erzählte mir seine Story, ob ich sie hören wollte oder nicht. Im Angesicht des Grabes empfand ich nur noch, dass ich keine Geschichte mehr hatte. Ich horchte nur kurz auf, als Kuki erwähnte, dass Paul übrigens ein Linkshänder gewesen ist. Und Anne nach Pauls Tod ganz rigoros meine Händigkeit umstellte, um nicht auch dadurch an Paul erinnert zu werden.
Wiebke sei mit sechzehn abgehauen, einen Tag nach ihrem Geburtstag. Er wisse nicht mehr, wie die Eltern Wiebkes Wegbleiben im Dorf erklärt hatten, aber er wisse aus seinen damaligen Recherchen noch genau, dass ihm immer alle unter vier Augen von der armen Anne und dem schlimmen Paul erzählt hatten:
„Schlimm. Ganz schlimm. Das hat die Anne nicht verdient. Nee, das hat sie nicht verdient. Der Paul, der taugte doch nichts. Aber Du steckst da ja nicht drin, nicht? Und böses Blut will hier keiner und der Paul hat ja nun bekommen, was er verdient hat, nicht?“, zitierte Kuki mit angewidertem Ton nicht nur jene Menschen, die ich aus Schule und Kirche gekannt hatte. Ja, Kuki war besser im Bilde.
„Warum hast Du diese ganze Story nicht als Reporter veröffentlicht? Wolltest Du auch kein böses Blut?“; den Sarkasmus meiner Frage überhörte er.
„In gewisser Weise, ja. Vielleicht hatte ich mich in Deine Mutter verliebt? Auf jeden Fall tatet ihr mir leid.“ Seine Stimme wurde wieder brüchig.
„Außer ihrem Namen, ihrem Alter und dem Zeitpunkt ihres Abschieds: Weißt Du noch irgendetwas über Wiebke?“
„Nein. Wenn ich Anne – so wie Du jetzt - nach Wiebke fragte, machte sie gleich zu. Ich glaube, sie war und ist eifersüchtig auf Wiebke. Das ist krank, das weiß ich, aber ich kann mir ihr Verhalten sonst nicht erklären. Nur durch einen Zufall hatte ich ein paar Fotos von Wiebke bei Euch gefunden. Ansonsten hat Anne alle vernichtet.“
„Außer dem Bild, das ich in meinem Kopf habe.“, antwortete ich nach einer Pause. „Danke, Kuki und tu mir jetzt einen Gefallen: Geh bitte.“
Nach langer Zeit stummer Zwiesprache mit meiner verbliebenen Vergangenheit – dem Grabstein und einem Bild namens Wiebke in meinem Kopf, also meinen Wurzeln, wie der Journalist es ausgedrückt hatte - stand ich mit dem Entschluss auf, mein Leben hinter mir zu lassen. Über die Schulter blickte ich zurück, sah nur noch den Mond und zeigte ihm den Mittelfinger.
VI.
Es lässt sich nicht leugnen: Ich bin ein Linkshänder. Also blieb ich dabei, meine linke Hand zu benutzen und ignorierte die rechte. Egal für welche ich mich entschieden hätte, jede Entscheidung schien fraglich. Denn die rechte Hand war Annes, die linke war Pauls. Aber ich bin Linkshänder, also habe ich Annes Umpolung revidiert.
Mittlerweile, gut und gerne fünf Jahre nach dem Friedhofsbesuch, weiß ich, dass eine Umschulung der Händigkeit wie eine Vergewaltigung ist. Es hat erhebliche Konsequenzen für die Persönlichkeit und die Identität. Aber so was scheint ja in der Tradition meiner Gene zu liegen: Vergewaltigung und Missbrauch.
Immerhin bin ich freischaffender Künstler geworden, habe mir auf dem Amt für geringes Entgelt einen Namen gekauft, unter welchem ich nicht nur meine Bilder veräußere, sondern auch den Rest meines Lebens bestreite. Der Alias, der Avatar, ist mir zur Krücke bei jedem meiner öffentlichen Schritte geworden.
Aber ich weiß, dass ich nicht dieser Phantasiename bin, dazu bin ich zu sehr der Sohn von diesem Paul. Und das ist leider nicht nur eine Frage der Linkshändigkeit. Sich wie van Gogh das Ohr abzuschneiden, wird mir wahrscheinlich nicht helfen.
Epilog:
Ich las: „Lehnen Sie sich zurück, schließen Sie die Augen und erinnern Sie sich daran, wie Sie heute morgen gefrühstückt haben. Lesen Sie nicht weiter, sondern konzentrieren Sie sich.“
Ich folgte den Anweisungen und sah mich aus der Vogelperspektive von hinten, wie ich am Tisch vor meiner Kaffeetasse saß. Und dann las ich, dass ich genau das sehen würde, aber dieses Bild nie selbst habe sehen können. Es sei eine Illusion, denn mit Sicherheit sei niemand hinter mir gewesen, der diese Aufnahme hätte machen können.
Da fragte ich mich, wer meinen Film, in dem ich der Hauptdarsteller bin, eigentlich dreht? Wer filmt meine Erinnerungen so, als seien sie von einem anderen und suggeriert mir, dass alles ich sei?
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#2
von Maya (gelöscht)
Aktionspotenziale
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 15.11.2007 13:15von Maya (gelöscht)
Hi Brot,
ich halte deine KG ebenfalls für gelungen. Als ich die ersten Kapitel las, hatte ich nicht das Gefühl, eine Geschichte von Brot vor der Nase zu haben. Der Stil war ein ganz anderer als der, den ich von dir gewohnt bin, da waren weder Ecken noch Kanten, keine frechen Wendungen, kein Abdriften in die Fäkalsprache und keine sonstigen Hirndreher. Schade, dachte ich anfangs, nun wollte er eine so tolle KG für den Wettbewerb schreiben, dass er seinen eigenen, für mich ausgesprochen interessanten Schreibstil verleugnet hat. Die ersten Kapitel lasen sich ja nicht schlecht, nur eben sehr glatt, schnörkellos, irgendwie so, so…normal (normal ist bei mir negativ besetzt ).
Doch ändert sich das im Laufe der Zeit, mit jedem weiteren Kapitel, so hatte ich jedenfalls das Gefühl, kehrt Brot ein Stück mehr zu seiner Schreibe zurück. Zum Ende hin, also vornehmlich in den letzten beiden Kapiteln, bin ich dann mehr als versöhnt, da tauchen die zuvor vermissten Sätze auf, um die ich meine Gedanken kreisen lassen kann, weil sie mehrere Ebenen bedienen. Die Kirchenszene in Kap.V beispielsweise, wo du noch einmal Bezug zu Kap.II nimmst und sich der Protagonist davon überzeugt, dass Jesus wie eh und je am Kreuze hängt („Kurz schaute ich hinein, ob Jesus noch am Kreuz hängt und fühlte mich bestätigt, dass hier alles noch am selben Platz stand und hing.).
Noch eine Frage: Wozu dient denn eigentlich das in Kapitel II erwähnte Dominospiel, welchen Zweck erfüllt es in der Geschichte? Mir ist das nicht ganz klar geworden.
Grüße, Maya
ich halte deine KG ebenfalls für gelungen. Als ich die ersten Kapitel las, hatte ich nicht das Gefühl, eine Geschichte von Brot vor der Nase zu haben. Der Stil war ein ganz anderer als der, den ich von dir gewohnt bin, da waren weder Ecken noch Kanten, keine frechen Wendungen, kein Abdriften in die Fäkalsprache und keine sonstigen Hirndreher. Schade, dachte ich anfangs, nun wollte er eine so tolle KG für den Wettbewerb schreiben, dass er seinen eigenen, für mich ausgesprochen interessanten Schreibstil verleugnet hat. Die ersten Kapitel lasen sich ja nicht schlecht, nur eben sehr glatt, schnörkellos, irgendwie so, so…normal (normal ist bei mir negativ besetzt ).
Doch ändert sich das im Laufe der Zeit, mit jedem weiteren Kapitel, so hatte ich jedenfalls das Gefühl, kehrt Brot ein Stück mehr zu seiner Schreibe zurück. Zum Ende hin, also vornehmlich in den letzten beiden Kapiteln, bin ich dann mehr als versöhnt, da tauchen die zuvor vermissten Sätze auf, um die ich meine Gedanken kreisen lassen kann, weil sie mehrere Ebenen bedienen. Die Kirchenszene in Kap.V beispielsweise, wo du noch einmal Bezug zu Kap.II nimmst und sich der Protagonist davon überzeugt, dass Jesus wie eh und je am Kreuze hängt („Kurz schaute ich hinein, ob Jesus noch am Kreuz hängt und fühlte mich bestätigt, dass hier alles noch am selben Platz stand und hing.).
Noch eine Frage: Wozu dient denn eigentlich das in Kapitel II erwähnte Dominospiel, welchen Zweck erfüllt es in der Geschichte? Mir ist das nicht ganz klar geworden.
Grüße, Maya
#3
von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Aktionspotenziale
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 15.11.2007 19:37von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Hallo Maya,
und vielen Dank für die Blumen. Es freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat.
Es klingt bekloppt, aber dass Du meinen Stil vermisst hast in den ersten Kapiteln, das habe ich tatsächlich versucht zu erzeugen. Ich hätte nie gedacht, dass das funktioniert. D.h. ich wollte auch am Erzählstil gewissermaßen von rechts nach links gehen. Deshalb finde ich es Spitze, dass Du das glatt und schnörkellos findest.
An sich ein zwiespältiges Anliegen, denn das Ganze erzählt der spätere Linkshänder. Aber es scheint insofern aufgegangen zu sein, dass die Selbstverleugnung herauslesbar ist. Deshalb auch Mum, Kuki und die Perlenkette tragende Omma. Das sind Namen und Motive aus Prosateilen von Fingerspur und Erebus.
Das Dominospiel baute ich ein, weil auch diese Geschichte am Ende nichts offen lassen sollte. Alle Steine abgeräumt - vielleicht bis auf den letzten Ankerstein. Das gleiche gilt für Bauhaus und Architektur. Kein Schnörkel
PS: Fabian hat aber nicht zu unrecht bemerkt, dass der Wiebkestein stehenblieb.
und vielen Dank für die Blumen. Es freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat.
Es klingt bekloppt, aber dass Du meinen Stil vermisst hast in den ersten Kapiteln, das habe ich tatsächlich versucht zu erzeugen. Ich hätte nie gedacht, dass das funktioniert. D.h. ich wollte auch am Erzählstil gewissermaßen von rechts nach links gehen. Deshalb finde ich es Spitze, dass Du das glatt und schnörkellos findest.
An sich ein zwiespältiges Anliegen, denn das Ganze erzählt der spätere Linkshänder. Aber es scheint insofern aufgegangen zu sein, dass die Selbstverleugnung herauslesbar ist. Deshalb auch Mum, Kuki und die Perlenkette tragende Omma. Das sind Namen und Motive aus Prosateilen von Fingerspur und Erebus.
Das Dominospiel baute ich ein, weil auch diese Geschichte am Ende nichts offen lassen sollte. Alle Steine abgeräumt - vielleicht bis auf den letzten Ankerstein. Das gleiche gilt für Bauhaus und Architektur. Kein Schnörkel
PS: Fabian hat aber nicht zu unrecht bemerkt, dass der Wiebkestein stehenblieb.
#4
von Maya (gelöscht)
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in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 15.11.2007 21:11von Maya (gelöscht)
Das finde ich ja genial, soweit habe ich gar nicht gedacht. Demzufolge schreibt anfangs der zur Rechshändigkeit Gezwungene und kann ob des Korsetts sein Potenzial nicht freilegen, nicht ausschöpfen. Die Rechtshändigkeit bremst ihn.
Der Fakt, dass der Protagonist also immer mehr zu sich findet, zunehmend zu seiner Linken steht und sie nicht mehr verleugnet, spiegelt sich auch im Schreibstil der einzelnen Kapitel wider. Starke Idee, wirklich!
Zum Ende hin äußert er dann: "Es lässt sich nicht leugnen: Ich bin ein Linkshänder. Also blieb ich dabei, meine linke Hand zu benutzen und ignorierte die rechte".
Daher fremdelten mich die ersten Kapitel so an.
Der Fakt, dass der Protagonist also immer mehr zu sich findet, zunehmend zu seiner Linken steht und sie nicht mehr verleugnet, spiegelt sich auch im Schreibstil der einzelnen Kapitel wider. Starke Idee, wirklich!
Zum Ende hin äußert er dann: "Es lässt sich nicht leugnen: Ich bin ein Linkshänder. Also blieb ich dabei, meine linke Hand zu benutzen und ignorierte die rechte".
Daher fremdelten mich die ersten Kapitel so an.
#5
von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
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in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 19.11.2007 20:32von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Hallo Maya,
danke für das "genial" Ich bin mir aber nicht ganz sicher ob dieser Wechsel wirklich so deutlich ist.
Jedenfalls habe ich bei dieser Frage in einem kleinen Fledversuch eher - naja - bescheidene Rückmeldungen erhalten.
Natürlich habe ich mir gesagt, dass die nicht so genau lesen können wie Du und echt keine Ahnung haben. Doch anscheinend ist es noch zu versteckt oder noch nicht gut genug im Sinne von zweifellos ist es so umgesetzt.
Egal wie, ich freue mich sehr, dass Du diese Intention bemerkt hast.
Gruß
Brot
danke für das "genial" Ich bin mir aber nicht ganz sicher ob dieser Wechsel wirklich so deutlich ist.
Jedenfalls habe ich bei dieser Frage in einem kleinen Fledversuch eher - naja - bescheidene Rückmeldungen erhalten.
Natürlich habe ich mir gesagt, dass die nicht so genau lesen können wie Du und echt keine Ahnung haben. Doch anscheinend ist es noch zu versteckt oder noch nicht gut genug im Sinne von zweifellos ist es so umgesetzt.
Egal wie, ich freue mich sehr, dass Du diese Intention bemerkt hast.
Gruß
Brot
#6
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
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in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 17.01.2008 14:46von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Hallo Brot,
Deine ist die letzte der Wettbewerbsgeschichten, die ich mir vorgenommen habe.
Rechtschreib/-Grammatikfehler habe ich erfreulich wenige gefunden,vorenthalten möchte ich sie Dir aber dennoch nicht :
Ich meine, dass das "und" nicht zu dem Nebensatz gehört und deshalb durch ein Komma abgetrennt werden sollte.
...schaute ich hinein und fühlte mich bestätigt - dazwischen liegt der mit Kommata abgetrennte Nebensatz.
Dafür ist das Komma nach dem Altar überflüssig.
Da fehlt was .
Ansonsten ist mir aufgefallen, dass Du eine Affinität zu dem kleinen Wörtchen "aber" zu haben scheinst. Im 2. Kapitel Abs. 3 und 4 aberst Du 4mal, allein im 7. Abs. desselben Kapitels dreimal. Nicht wirklich schlimm, aber die Wortwiederholung ist dann doch leicht vermeidbar.
Etwas verwirrend fand ich, als im 3. Kapitel erstmals Anne genannt wurde. Die Mutter kam von Anfang an in der Geschichte vor, ohne sie beim Namen zu nennen - und plötzlich, im 3. Kapitel wird von einer Anne gesprochen. Dass es sich hier um ein und dieselbe Person handelt, habe ich erst später mit Sicherheit sagen können. Mich hat das beim Lesen etwas ausgebremst...
Und eines noch: am Ende des 5. Kapitels sprichst Du so nüchtern vom "Journalisten" - und das, nachdem Kuki zuvor nicht nur als alter Familienfreund dargestellt wurde, sondern auch - in einem sehr intimen Gespräch - das zentrale Familiengeheimnis offenbarte. "Der Journalist" klingt da irgendwie überraschend unpersönlich, selbst wenn man zugrundelegt, dass der Protagonist der Geschichte nun Anstand zu diesem dunklen Geheimnis und dessen Geheimnisträger gewinnen will.
Insgesamt fand ich Deine Geschichte spannend, besonders beeindruckt war ich von dem Höhepunkt Ende des 4.Kapitels, als Anne so überraschend und nicht nachvollziehbar ausgeklinkt ist. Mit dieser Szene hast Du mich neugierig gemacht und zusammen mit dem Protagonisten will man einfach mehr erfahren. Zum Ende hin hat Deine Geschichte für mich leider wieder etwas an Fahrt verloren, und die Auflösung, so bestürzend sie auch war, empfand ich dann doch etwas enttäuschend.
Die Geschichte ist dabei schlüssig und rund erzählt, viele aufgenomme Fäden klären sich und ergeben Sinn, so dass ich - auch wenn ich für das Ende noch etwas dramatischeres erhofft hatte - keineswegs meinen Spaß an der Geschichte verloren habe. Vielleicht lag es an dem dramatischen Höhepunkt mit Anne, der für mich beste Moment der Story, der zugleich meine Erwartungen in die Höhe schraubte, dass es eigentlich nur noch bergab gehen konnte.
Den Epilog fand ich gleichermaßen seltsam wie faszinierend. Ich muss gestehen, dass ich noch immer nicht so ganz hinter dessen Bedeutung gestiegen bin.
Interessant finde ich den Prolog: während ich diese Erinnerung zu Beginn als verhältnismäßig unschuldig empfand und nur als Einleitung für die Rechts-Linkshänder-Problematik, sehe ich sie jetzt als kindliche Verklärung einer für den Protagonisten zu grausamen Wahrheit. Seine Schwester als Spieluhr, sich verführerisch drehend und Spielobjekt des Vaters. Das sitzt.
Alles in allem ist das die komplexeste Geschichte, in der viele Andeutungen und Bilder verwendet wurden, die den Inhalt und die Probleme der Personen wiederspiegeln. Für eine Kurzgeschichte kommt es mir allerdings etwas zu lang vor. Jedenfalls hast Du den Wettbewerb nicht unverdient gewonnen, auch wenn ich nach der Lektüre aller Beiträge GW's Geschichte am Besten fand - trotz ihrer kleineren handwerklichen Mängel.
Ein starkes Stück ist Dein Text aber allemal.
Grüße,
Don
Deine ist die letzte der Wettbewerbsgeschichten, die ich mir vorgenommen habe.
Rechtschreib/-Grammatikfehler habe ich erfreulich wenige gefunden,vorenthalten möchte ich sie Dir aber dennoch nicht :
Zitat: |
Mum realisierte wohl, wie schlecht es mir ging und dass ich Großmutter, wo ich nur konnte, auswich (Komma) und so war es ein glücklicher Tag, als wir ein gutes halbes Jahr später nach diesem Vorfall Ingeborg wieder verließen und unsere Zelte in der Stadt aufschlugen. |
Ich meine, dass das "und" nicht zu dem Nebensatz gehört und deshalb durch ein Komma abgetrennt werden sollte.
Zitat: |
Kurz schaute ich hinein, ob Jesus noch am Kreuz hängt (Komma) und fühlte mich bestätigt, dass hier alles noch am selben Platz stand und hing. Kurz nach meiner Stippvisite am Altar, (komma weg) befand ich mich am Treffpunkt. |
...schaute ich hinein und fühlte mich bestätigt - dazwischen liegt der mit Kommata abgetrennte Nebensatz.
Dafür ist das Komma nach dem Altar überflüssig.
Zitat: |
Dieser Endstein war der letzte Anker meiner Identität (Satzzeichen) Ich hätte mir einen lebendigeren und angenehmeren gewünscht. |
Da fehlt was .
Ansonsten ist mir aufgefallen, dass Du eine Affinität zu dem kleinen Wörtchen "aber" zu haben scheinst. Im 2. Kapitel Abs. 3 und 4 aberst Du 4mal, allein im 7. Abs. desselben Kapitels dreimal. Nicht wirklich schlimm, aber die Wortwiederholung ist dann doch leicht vermeidbar.
Etwas verwirrend fand ich, als im 3. Kapitel erstmals Anne genannt wurde. Die Mutter kam von Anfang an in der Geschichte vor, ohne sie beim Namen zu nennen - und plötzlich, im 3. Kapitel wird von einer Anne gesprochen. Dass es sich hier um ein und dieselbe Person handelt, habe ich erst später mit Sicherheit sagen können. Mich hat das beim Lesen etwas ausgebremst...
Und eines noch: am Ende des 5. Kapitels sprichst Du so nüchtern vom "Journalisten" - und das, nachdem Kuki zuvor nicht nur als alter Familienfreund dargestellt wurde, sondern auch - in einem sehr intimen Gespräch - das zentrale Familiengeheimnis offenbarte. "Der Journalist" klingt da irgendwie überraschend unpersönlich, selbst wenn man zugrundelegt, dass der Protagonist der Geschichte nun Anstand zu diesem dunklen Geheimnis und dessen Geheimnisträger gewinnen will.
Insgesamt fand ich Deine Geschichte spannend, besonders beeindruckt war ich von dem Höhepunkt Ende des 4.Kapitels, als Anne so überraschend und nicht nachvollziehbar ausgeklinkt ist. Mit dieser Szene hast Du mich neugierig gemacht und zusammen mit dem Protagonisten will man einfach mehr erfahren. Zum Ende hin hat Deine Geschichte für mich leider wieder etwas an Fahrt verloren, und die Auflösung, so bestürzend sie auch war, empfand ich dann doch etwas enttäuschend.
Die Geschichte ist dabei schlüssig und rund erzählt, viele aufgenomme Fäden klären sich und ergeben Sinn, so dass ich - auch wenn ich für das Ende noch etwas dramatischeres erhofft hatte - keineswegs meinen Spaß an der Geschichte verloren habe. Vielleicht lag es an dem dramatischen Höhepunkt mit Anne, der für mich beste Moment der Story, der zugleich meine Erwartungen in die Höhe schraubte, dass es eigentlich nur noch bergab gehen konnte.
Den Epilog fand ich gleichermaßen seltsam wie faszinierend. Ich muss gestehen, dass ich noch immer nicht so ganz hinter dessen Bedeutung gestiegen bin.
Interessant finde ich den Prolog: während ich diese Erinnerung zu Beginn als verhältnismäßig unschuldig empfand und nur als Einleitung für die Rechts-Linkshänder-Problematik, sehe ich sie jetzt als kindliche Verklärung einer für den Protagonisten zu grausamen Wahrheit. Seine Schwester als Spieluhr, sich verführerisch drehend und Spielobjekt des Vaters. Das sitzt.
Alles in allem ist das die komplexeste Geschichte, in der viele Andeutungen und Bilder verwendet wurden, die den Inhalt und die Probleme der Personen wiederspiegeln. Für eine Kurzgeschichte kommt es mir allerdings etwas zu lang vor. Jedenfalls hast Du den Wettbewerb nicht unverdient gewonnen, auch wenn ich nach der Lektüre aller Beiträge GW's Geschichte am Besten fand - trotz ihrer kleineren handwerklichen Mängel.
Ein starkes Stück ist Dein Text aber allemal.
Grüße,
Don
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