#1

Tiger im Park

in Kurzes für Knirpse 31.03.2008 19:01
von sadi (gelöscht)
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Tiger im Park

Jeden Nachmittag wartete der Park auf Susanna, denn mit ihren Sommerkleidern schmückte er sich wie mit den Abendliedern der Lerchen oder mit dem Plätschern der kleinen Fontäne unter den Lindenbäumen. Wenn Susanna durch das gusseiserne Tor schritt mit den Jugendstillöwen, die von ihren Säulen lautlos die Besucher anbrüllten, öffnete der Park sein Herz. Die Rosenbüsche streuten ihre Blütenblätter auf die Wege, die sie lief. „Schön, dass es dich gibt!“ riefen die Butterblumen, als sie sich zwischen sie setzte. Und das Eichhörnchen brachte ihr die Nüsse, die es tagsüber von den anderen Besuchern gesammelt hatte. Der Park war glücklich mit Susanna und Susanna wollte an keinem anderen Ort sein, als nur in ihrem Park mit den Kastanienbäumen, den Parkbänken um die Fontäne und den Rabatten, die bunte Blumengirlanden auf dem Zierrasen bildeten.

Die Welt hatte Susanna bereits vergessen, denn sie kam nur noch in ihren Geschichten und Gedichten vor. In ihrem Briefkasten fand sie keine Werbebriefe mehr von den großen Versandhäusern und das Hauslicht vergaß zu leuchten, wenn sie spät abends in ihr Zimmerchen zurückkehrte.

Auch Susanna hatte die Welt vergessen. Ihr Park hatte hohe Mauern, um sie vor der Welt zu schützen. Der Park hasste die Welt, die mit ihrem Lärm und Gestank jede Minute anbrandete und seinen grünen Traum zu überrollen drohte. Weil der Park Susanna so sehr liebte, hielt er daher alles von ihr fern, was die Harmonie hätte stören können. Besucher, die nicht in das Bild passten, versuchte er mit Regentropfen zu vertreiben, die er von den Blättern der Bäume schüttelte. Ein Maulwurf musste seine vorwitzigen Hügelbauten mit dem Leben bezahlen, als ihn eines Nachts bei einer gemütlichen Ruhepause auf seinem Lieblingsgrabhügel ein herabstürzender Mauerstein erschlug. Der Park hatte sogar überlegt, den Winter auszuschließen. Doch der besaß wohl die größere Macht.

Sicher und geborgen saß Susanna im karmesinroten Kleidchen zwischen den sonnengelben Butterblumen, als schüchtern und bescheiden ein kleiner Tiger auf sie zutrat und höflich fragte: „Werte Dame, darf ich mich zu ihnen setzen. Ihr rotes Kleid kontrastiert ganz ausgezeichnet mit dem Gelb meines Streifenanzugs.“ „Das finde ich auch, Herr Tiger,“ antwortete Susanna artig, “bitte nehmen Sie doch Platz.“




In seiner rechten Vordertatze hielt der Tiger eine kleine Maus mit der er sich unterhielt, während er an ihrem linken Öhrchen knabberte. „Entschuldigung“, sagte der Tiger zur Maus, „Entschuldigung, aber ich muss dich fressen. Denn weißt Du, ich bin von Haus aus Fleischfresser. Daher bekommen mir die Äpfel nicht, die wir im Park gefunden haben. Ich müsste verhungern. Darum, guter Freund, nimm Abschied vom Leben.“ „Wenn es denn sein muss,“ antwortete die Maus, „Aber denk dran, was du mir erzählt hast. Wenn ich wiedergeboren werde, komm ich vielleicht als Tierbändiger wieder und verarbeite dich zu Tigerwurst.“

Die Maus hatte nur eine ungefähre Ahnung von dem Beruf des Tierbändigers und eigentlich gar keine von Wurst. Sie hatte in einem ganz normalen Wohnhaus gewohnt, dessen Besitzer Vegetarier war. Ihre Kenntnisse von Lebensmitteln beschränkten sich auf Brot, Käse, Obst und Gemüse. Der Vegetarier hieß Horst und war von Beruf Künstler. Er war eng befreundet mit einer Deutschlehrerin, die in ihrem Garten einen Feigenbaum aus der Toskana stehen hatte. Der Vegetarier Horst baute im Dachgeschoß seines Hauses künstlerische Flugobjekte und startete sie vom Dachfenster aus. Es war wohl ein Traum von ihm, über den Feigenbaum hinweg in die Toskana zu fliegen. Er konnte ja nicht wissen, dass eines dieser Flugobjekte einem Falken glich. „Oh, Herr Jesus, hilf!!“ hatte die Maus geschrieen und war in den Park geflüchtet. Sie hatte nur eine ungefähre Vorstellung von Falken, sonst wäre sie dem Irrtum nicht erlegen.

Susanna blickte hinauf, direkt mitten hinein in die Fangzähne des Tigers, auf denen der Speichel verzückt kleine Ornamente bildete. Vorwurfsvoll mahnte sie: „Lassen Sie Sidolin in Ruhe, Herr Tiger, suchen Sie sich eine Eichel.“ Gekränkt blickte sie der Tiger an. Sie hatte offenbar nicht zugehört. „Hier beginnt jetzt die Geschichte, wie ich zu meinem Namen kam,“ sagte Sidolin „Doch zuvor will ich noch erzählen, wie ich in den Park von Susanna gekommen bin,“ brummte der Tiger. „Dazu möchte ich aber wissen, wie der Park zu leben begonnen hat“, fragte Susanna.




Und der Park begann zu erzählen:“ Die ganze Welt war einmal ein Paradies gewesen, bevor der erste Mensch geschaffen worden war. Klar hatten die Tiger auch damals schon Mäuse gefressen und die Würmer die Tiger.“ Der Tiger blickte erstaunt in den Park: „Hä, die Würmer?“ „Und die Maulwürfe die Würmer“, fuhr der Park fort „Und immer so fort. Aber immer nur eins nach dem andern und niemals gleichzeitig. Die alten, weisen Bäume hatten darüber gewacht. Die Blumen hatten dem Paradies ihre Farben gegeben und die Schmetterlinge hatten die Farben in jeden Winkel der Erde getragen. Da kamen irgend wann die Menschen und begannen die Erde leer zu fressen. Das Paradies sah, dass es keine Chance hatte gegen diese neue Art, die Gott auf es losgelassen hatte. Es rief den großen Rat der Bäume zusammen: „Ihr Wächter des Paradieses, was ratet ihr mir in dieser verzweifelten Lage?“ „Nichts hält die Menschen auf, nicht die stärkste Eiche, nicht einmal der gewaltige Mammutbaum, nicht die tief wurzelnde Akazie, nicht das gewaltige Heer der Fichten aus dem Norden,“ orakelte eine Ulme. „Wir sollten sie auslöschen, uns auf sie stürzen,“ „Aber wie? Sie vermehren sich wie die Blattläuse und sind nur tausend Mal so groß.“ „Da hilft nur der Rückzug,“ sprach der Baobab. „Ich weiß das, ich sammle in mir Wasser und habe noch einen Vorrat, wenn um mich herum schon die Wüste selbst Durst bekommt.“ „Stimmt,“ rief die Akazie, „genau so mach ich es! Ich suche mit meinen Wurzeln in den tiefsten Tiefen nach Wasser und überlebe so.“ Wir müssen versuchen zu überleben.“ „So begann ich nach meiner Quelle zu suchen.“ erzählte das Paradies. „Ich habe sie gefunden, hinten bei den künstlichen Lavafelsen und der Feengrotte .....“, Aber da war Susanna schon eingeschlafen. Auch der Tiger hatte schon seine gelben Tigeraugen geschlossen. Sogar Sidolin hatte die großen rosa Ohren zugeklappt und lag zusammengerollt im Schoß der Katze.

Die Bienen summten die Geschichte des Paradieses weiter: „... und das Paradies baute eine Mauer, so hoch wie die Mauer des Parks und suchte sich einen Traum und begann darin zu träumen.“ Aber keiner hörte sie mehr, denn sogar die Rosen waren schon eingeschlafen vom Gesumme der Bienen.

Als Tiger erwachte, verspürte er einen unbändigen Appetit auf weiße Mäuse. Nicht, dass er nur und ausschließlich weiße Mäuse gefressen hätte. Sidolin war schließlich eine simple graue Maus. Tiger hatte eigentlich Appetit auf alles, was sich auf Beinen vorwärts oder rückwärts bewegte oder mit Flügeln flatterte oder mit Flossen schlug oder sich ringelte oder herumkroch oder in die Erde Löcher grub oder in der Nase bohrte oder .... hatte er nicht was Essbares vergessen? Klar, Tiger war nicht der Schlauste. Aber er hatte die besten Zähne und den tollsten Speichel. Das muss man zugeben. Er griff mit der Tatze nach Sidolin. Aber der war längst weg. Er kannte Tiger ja schon länger und wusste genau, das Tiger bald wieder seinen Traum vom großen Jagen am Ihrawaddy träumen würde.

Seit seiner Zeit im Zirkus, Tiger hatte eigentlich nur Erinnerungen an den Zirkus, hatte er nie mehr ein anderes Tier gefangen. Tiger konnte es sich nicht genau erklären. Aber tatsächlich, das letzte Fleisch, das er zwischen die Zähne bekommen hatte, war der Löwenbändiger mit der Eisenstange gewesen, der sich im in den Weg gestellt hatte. Auch da wusste er nicht mehr genau, ob er nur in die Eisenstange gebissen hatte. Polizisten und Tierfänger aus der ganzen Stadt hatten ihn gejagt, bis Tiger sich mit einem gewaltigen Satz über die Mauer des Parks rettete. Auch der Park war argwöhnisch und schloss seine Wege und Pfade langsam zu mit schnell wucherndem Efeu und der Ackerwinde, dem Hahnenfuß und den wilden Himbeeren. Doch Susanna war Tiger begegnet, sie kannte ja jeden Winkel im Park, und sie hatte ihn gleich gemocht, besonders als sie seine Geschichte von der Flucht hörte. Darum hatte der Park Tiger in seine Träume vom Paradies eingesponnen. Tiger träumte seine Träume vom Fressen und von der großen Jagd nach Gazellen im indischen Dschungel und vergaß die kleine Jagd nach den weißen Mäusen.

So vergingen die Tage im Park wie die Träume des Tigers. Jeder hatte eine kleine Besonderheit, immer war ein Geschenk für Susanna auf den Wiesen oder zwischen den Büschen, manchmal in den Wipfeln der Bäume. Manchmal war ein Blatt aus Rubinen im Herbst, ein anderes Mal ein Kristall aus reinem Eis, dann wieder ein diamantbesetztes Spinnennetz. Am meisten liebte sie aber den Stein, den ihr Tiger geschenkt hatte, unter seiner dunkel glänzenden Nachtoberfläche hatten sich die Strahlen des Mondes gefangen, als sie einmal durch die Nebelschleier in den Park hinab gefallen waren. Tiger liebte Susanna, aber anders als der Park Susanna liebte, eben wie ein Tiger. Auch Tiger können lieben.

Sidolin war alt geworden und sonnte sich vor seinem Lieblingsloch am großen Tor. Früher kam es schon mal vor, dass ein verlassener Hund anklopfte und um eine Karotte bettelte oder ein Igel, der mit ein paar Birnen in der Tasche weiter wanderte. Sidolin rief dann immer durch die Luke: „Hallo, wer da!?“ „Ein armer Igel auf Wanderschaft.“ „Eintritt verboten!“ antwortete Sidolin hastig und rollte als Wegzehrung die Birnen unter den Ritzen durch. „Nichts für ungut.“ Aber das war lange her. Auch Susanna hatte den Park nicht mehr verlassen wollen, irgendwann, um in ihre Wohnung zurück zu kehren. Es gab einfach keinen Grund mehr dafür. In dem Briefkasten nisteten Asseln und Tausendfüßler und der kleine Kolonialwarenhändler an der Ecke war längst in die Türkei zurückgekehrt.
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#2

RE: Tiger im Park

in Kurzes für Knirpse 22.04.2009 09:49
von gheggrun | 377 Beiträge | 377 Punkte

Hallihalo, Sadi!
Eine Supergeschichte! An Einzelheiten rumkritteln, kann jeder. Bringt aber nichts,
wenn man nicht weiss, fuer welches Kind die Geschichte urspruenglich
geschrieben worden ist. Deshalb gibt es nichts einzuwenden.
Bei mir waere der der Türke im Altersheim (nicht in der Türkei) gelandet, Sidolin
hiesse vielleicht Fridolin und der Laden waere ein Tante-Emma-Laden gewesen.
Die Illus sind auch toll.


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