#1

Jessica

in Gesellschaft 04.06.2008 00:05
von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte

Jessica



Ja, manchmal hörte man - es war fast gar nicht zu verstehen -
ein dauerhaftes - aber wirklich leises - Weinen,
aus ihrem Zimmer dort, im fünften oder sechsten Stock.

Doch jeden Morgen stand sie pünktlich, mit den andern Kleinen,
vor dieser Backsteinmauer, um zum Bus zu gehen, -
die Haltestelle war da drüben, hinterm nächsten Block.

Sie spielte selten mit, hat meistens nur gelesen,
die Mädchen mieden sie, denn Puppen fand sie doof.
Sie mochte Bücher über Feen und Fabelwesen
und saß alleine auf der Bank im Hinterhof.

Wie oft sind denn die Dinge schon, wie sie uns scheinen,
wer konnte ahnen, dass so Sachen hier geschehn?
Wir sind ganz groß darin die Wahrheit zu verneinen,
doch viel zu klein, um uns im Spiegel anzusehn.


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#2

Jessica

in Gesellschaft 04.06.2008 10:56
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Liebe Simone,

erstmal zum Inhalt. Jessica ist ein klassischer Außenseiter, in wenigen Worten greifbar, vielleicht auch etwas klischeehaft beschrieben. Die "komischen Gewänder" wirken auch mich im Zusammenhang mit der restlichen Sprache etwas altertümlich, kann man aber auf eine Unterstreichung des beistehenden "komische" schieben.

Jessica ist isoliert von den anderen. Wie alt sie ist, ist schwer einzuschätzen. Zwischen 8 und 12 würde ich schätzen. Dann ist irgendetwas passiert, etwas unerfreuliches. Etwas das absehbar war, da am Schluss auf eine verneinte Wahrheit hingewiesen wird. Ich tippe mal auf Selbstmord.
Was mich dann doch an der Außenseiterschilderung irritiert ist, dass Jessica sich zum einen ihr Einsiedlerdasein selbst zu wählen scheint, andererseits aber wiederum unglücklich darüber ist. Dass die Mädchen sie mieden, weil sie Puppen doof fand, ist hier wohl der Schlüssel. So ganz werde ich jedenfalls nicht schlau daraus.

Was mir stillistisch ins Auge fällt, ist, dass Du sehr einfache und für meine Begriffe leider schon langweilige Reime verwendest. Gehen/stehen, Kleinen/Weinen, Hof/doof, Stock/Block. Irgendwie mag mir das nicht gefallen.
So ganz überzeugend ist dieser Selbstmordplott von der Motivation eben auch nicht.
Es sei denn, es war gar kein Selbstmord und Jessica ist verschleppt, missbraucht oder sonstwas worden, da ihr der Schutz der Gruppe vor solchen Übergriffen fehlte. Das wird ja nicht so ganz klar. Dann würde ich allerdings kritisieren, dass das Gedicht in der Aussage etwas unklar bleibt.

Noch ein Kritikpunkt: Die erste Strophe ist mir zu verschachtelt. Dannach hast Du einen guten Sprachfluss. Dadurch bekommt der Text etwas schön Erzählerisches, was ich wiederum sehr mag.
Und auch wenn ich den Hintergrund etwas zu wage finde, so finde ich die letzte Strophe dieses umgedrehten Sonetts sehr stark. Die ist für mich das Glanzstück, für das ich mir einen überzeugenderen Rest gewünscht hätte.

Viele Grüße,
GW

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#3

Jessica

in Gesellschaft 04.06.2008 11:33
von Habibi (gelöscht)
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Hallo Simone, mich hat dein Gedicht sehr angesprochen und ich finde es auch überhaupt nicht schlimm, wenn der reale Hintergrund im Dunkeln bleibt. Soll doch jeder seine eigenen Assoziationen haben. Ich dachte dabei an all die vielen Kinder, die von ihren Eltern vernachlässigt, misshandelt und missbraucht werden. Darauf deutet auch ihre Flucht in die Phantasie, hin zu anderen, weit entfernten Welten, hin. An Selbstmord habe ich überhaupt nicht gedacht, aber daran, dass es dieses Mädchen irgendwann nicht mehr gibt und alle sich wundern, dass sie nichts gemerkt haben. Allerdings hat mich etwas irritiert, dass mich der Hinweis auf die komischen Gewänder eher an Richtung Sekte erinnert haben. Das wäre - zumindest was meine Interpretation des Inhalts anbetrifft - irre führend. Wobei es ja auch solche Fälle gab, dass ein Kind in einer Familie mit Sektenhintergrund so abgeschirmt wurde. Teilweise sogar vor den Ärzten. Wie auch immer, für mich ein gutes, wichtiges und handwerklich perfektes Gedicht.
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#4

Jessica

in Gesellschaft 04.06.2008 13:20
von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte
Hallo GW

Ja, die komischen Gewänder sind eigentlich nur da, weil mir nichts besseres auf Länder eingefallen ist. Ich hab die Strophe jetzt geändert.

Warum sie weg ist, weiß ich auch nicht. Habe das aber absichtlich offen gelassen, weil ich denke, dass es da viele Möglichkeiten gibt und es muss, meiner Meinung nach auch nicht erklärt werden, weil jeder sich seinen Teil dazu denken wird.

Diese einerseits selbst gewählte Isolation und andererseits das Ausgeschlossensein ist doch ein Kreislauf. Ich finde das nicht unstimmig, im Gegenteil.

Die Reime sind sicher nicht besonders originell, aber ehrlich gesagt habe ich mir darüber nicht besonders viele Gedanken gemacht, sondern versucht, mich auf den Inhalt zu konzentrieren.

Die Verschachtelung der ersten Strophe ist Absicht. Ließe man die Einschübe weg, wäre es ganz klar, dass das Kind ein Problem hatte, aber mit den Einschüben wollte ich verdeutlichen, dass das Offensichtliche runtergespielt wird und man es nicht sehen will.

Freut mich, dass du die letzte Strophe stark findest.

Besten Dank und Gruß
Simone

Hallo Habibi

Wie gesagt, den Hintergrund habe ich absichtlich im Dunkeln gelassen, weil doch jeder andere Erinnerungen oder Erlebtes mit einfließen lässt.
Die Gewänder sind raus, das war zu irritierend, an eine Sekte dachte ich auch nicht, leider musste ich auch die fernen Länder kippen, weil mir darauf nichts eingefallen ist, obwohl ich das passend fand, dieses wegträumen von der Realität.

Freut mich, dass es dir gefällt.

Besten Dank und Gruß
Simone


S3 alt

Sie spielte selten mit, trug komische Gewänder,
die Mädchen mieden sie, denn Puppen fand sie doof.
Sie mochte Bücher über Feen und ferne Länder,
saß meist alleine auf der Bank im Hinterhof.

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#5

Jessica

in Gesellschaft 04.06.2008 13:40
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Simone,

ich nochmal. Das mit der selbstgewählten Isolation und dem Ausgeschlossensein fand ich jetzt auch nicht unstimmig. Es verwunderte mich nur.
Dennoch frage ich mich, ob des wagen Endes, welche Wahrheit da verneint wird. Dass Kinder unsozial sein können und Außenseiter ausschließen? Denn das ist letztlich das, was aus meiner Sicht als Erkenntnis oder Schlussfolgerung aus dem Gedicht bleibt. Denn es gibt keinen Hinweis auf ein Ereignis. Dementsprechend muss man ja annehmen, dass sich die letzte Strophe bzw. die "so Sachen" auf das zuvor Beschriebene bezieht. Dann finde ich es insgesamt wieder schlüssig.

Grüße,
GW


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#6

Jessica

in Gesellschaft 04.06.2008 14:05
von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte
Hi GW

Es ging mir eigentlich nur darum zu beschreiben, dass da ein Kind ist, das Probleme hat und Hilfe braucht. Ob das nun einfach die Einsamkeit ist, durch das Ausgeschlossensein oder die Ursachen tiefer liegen zB. im familiären Bereich, finde ich zweitrangig. "So Sachen" ist sicher sehr Allgemein, aber das könnte alles gewesen sein, wie du vermutest Selbstmord, oder wie Habibi Mißbrauch oder Vernachlässigung. Ich denke aber, dass klar ist, das Jessica weg ist, möglichweise tot oder auch nur von der Fürsorge in ein Heim gebracht.
„Wir“ die Leute in der unmittelbaren Umgebung oder die Gesellschaft allgemein, ignorierte die offensichtlichen Anzeichen, spielte sie runter, mit wird schon nicht so schlimm sein oder geht uns nichts an. Und am Ende will keiner was gemerkt haben.
Und das meine ich mit der Wahrheit, dass man es hätte erkennen können (müssen), dass das Mädchen Hilfe braucht, hätte man die Augen nicht zugemacht, denn die Anzeichen waren, ob nun mehr oder weniger offensichtlich, doch da.
Doch um das zuzugeben, müsste man sich eine gewisse Unterlassungsschuld eingestehen und sein eigenes Verhalten hinterfragen, sich selbst im Spiegel betrachten.

Gruß Simone

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