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Göttliche Langeweile

in Kommentare, Essays, Glossen und Anekdoten 05.07.2008 18:19
von Karl Feldkamp • Mitglied | 194 Beiträge | 194 Punkte
Die Steigerung von Überblick ist vermutlich Durchblick. Und das, obwohl der ordinäre Mitmensch meinen könnte, einer mit absolutem Überblick habe bereits jene allumfassende und vorausschauende himmlische Sicht Gottes auf seine Schöpfung. Gott, selbst undurchschaubar, durchschaut alle und alles, jedenfalls der Gott, den meine katholischen Eltern mir als unbestechlichen Aufpasser mit auf den Lebensweg gaben.
Dem eingeschränkten Erdenmenschen bleiben allenfalls bescheidene Einsichten, mit denen er zwar hinein-, aber nicht gleichzeitig wieder hinaussehen kann.
Nun gibt es allerdings Autoren (ja, vor allem männliche), die neigen – voll und ganz im Gefühl, allmächtige Schöpfer ihrer Werke zu sein - zu jener vermeintlich erhabenen göttlichen Voraus- und Übersicht.
Aber, so beweisen schon die offensichtlich abenteuerlustigen Adam und Eva, selbst Gottes wohlwollender Wille fordert des Menschen Widerwillen heraus.
Kein Wunder also, wenn ich die ersten Seiten der Bücher gottgleicher Autoren zunächst einmal im Mitgefühl göttlicher Allmacht lese, bis mich recht bald – wegen des fehlenden Abenteuers - menschlicher Widerwille zu plagen beginnt. Dieser endet, wenn ich im Bett lese, mit rasant zunehmenden Ermüdungserscheinungen. Lese ich aber in Straßenbahn oder Bus, wende ich mich schnellstens richtigem Leben zu, schaue aus dem Fenster oder belausche die Gespräche der Fahrgäste, ergötze mich an den verrückten Frisuren Jugendlicher, die sich mit Wet-Gel ihren persönliche Stil zurechtstylten oder ich verliere mich in den Furchen und wachen Augen eines Greisengesichts, die ohne Einzelheiten zu verraten, von einem bewegten, aber offensichtlich genussvollen Leben erzählen. Gelegentlich – da bin ich ganz ehrlich - entblöße ich mit männlicher Fantasie besonders reizvolle Mitfahrgästinnen und stelle mir nicht nur vor, an welchen pikanten Stellen sie ein Muttermal oder Piercing haben.
Meine besonders kritischen und nicht selten verachtenden Blicke bleiben hingegen eher an männlichen Revierkonkurrenten hängen. Unwillkürlich produziert mein Hirn äußerst abfällige, nicht zum Mithören geeignete Bemerkungen über breitbeinig dasitzenden Machos, einen offenbar rechtslastigen Träger eines viel zu engen oberbayrischen Trachtenanzugs oder über jenen dicklichen älteren Geschlechtsgenossen, dessen neben ihm sitzenden Frau seine Blümchen-Krawatte zurechtrückt und mit Mädchenstimme bittet: „Vati, gib mir mal dein Taschentuch!“ um ihm mit ihrer alles reinigenden Spucke einen Flecken vom Mantelkragen zu reiben.
Der mit Gottesblick dreinschauende Autor durchschaut all das und übersieht es. Was kümmern ihn die kleinen alltäglichen Macken seiner Geschöpfe, die ihn mit rein gar nichts mehr überraschen können?
Nicht einmal mehr große Schicksale, Tragödien oder gar göttliche Komödien finden sein allwissendes Interesse.
Und obwohl die Steigerung von Überblick sicherlich Durchblick ist, reicht mir Widerspenstigem der beschränkte Einblick.
Ein allwissender Autor, der seine Leser am durchblickenden Allwissen teilhaben lässt, muss nicht einmal einen spannenden Verdacht haben. Weiß er doch ohnehin alles und seine Leser werden selbstverständlich auch alles erfahren.
Übrigens, wenn Gott sich tatsächlich zurückgezogen haben sollte, dann mit Sicherheit aus purer Langeweile.
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