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26
August
2011

Die barocke Übergangsphase

Jeder Mensch ist ein paradoxes Wesen. Und die Gesellschaft der Menschen ist ein Konglomerat der Paradoxien, die durch ihre Konvergenzen stabilisieren. Diese Stabilität ist uns ein essentielles Bedürfnis. Sie ermöglicht es uns erst, dass wir planen können, und schützt uns vor dem undurchdringlichen Nebel der Anarchie, der unter den Pfahlbauten des Weltdorfes lauert.

Doch wer die Ereignisse verfolgt, der spürt, dass es ächzt im Gebälk. Risse tun sich auf an diesem Konstrukt, welches nach dem zweiten Weltkrieg mit Vehemenz und der Verheißung von Dauerhaftigkeit in das menschliche Substrat gerammt wurde. Der Zusammensturz des kommunistischen Hauses war ein Einzelfall, so dachten wir, ein Konstruktionsfehler. Ansonsten sei doch alles gut in Schuss. Doch die Risse erscheinen weiter, fein, in den Augenwinkeln kaum wahrnehmbar, bezeichnen sie die Bausubstanz mit Malen. Die immer zahlreicheren Reparaturtrupps sind nicht faul. Sie kitten noch dort, wo moniert wird. Doch sie sind fahrig und auch sie können nicht verhindern, dass bei Windstille ein feiner Duft von Moder aufkommt.

In einer wachsenden Zahl von überfüllten Häusern wird dabei gezecht, als gäbe es kein Morgen. Es wird da gesungen und getanzt, geprasst und geprellt, gehurt und geschlemmt - leuchtende tönende Sprengsel der Zerstreuung auf morschen Bohlen. Sehnsüchtige Fenster und ungeduldige Verschläge dürfen diese unverhohlen verlockende Tanzwut auf den maroden Grenzanlagen über dem Chaos bestaunen - und sind dabei halbherzlich eingeladen. Keiner bemerkt bei all dem Treiben die fallenden Splitter, Bretter und Trümmer: der Nebel dämpft ihren Aufprall, der Festlärm verschluckt ihn. Die Sehnsucht der Höhenangst nach der senkrecht aufragenden Klippe und der unwiderstehliche Blick hinab hat sich tief ins Zentrum gefressen und lauert unsichtbar und mit perverser Gelassenheit auf den Abgrund.

Die großen Zeichen der Zeit brennen sich in ihre Protagonisten, doch in jeden brennt sich nur ein kleines Stück. So sehen wir sie erst in der Rückschau, wenn die Perspektive voranrückt und ein Gesamtbild sich offenbart - als es, schon verblassend, übermalt wird. Was werden die Historiker im Jahr 2100 in der Rückschau auf die früheren Jahre des 21. Jahrhundert sehen?
Eine selbstsüchtige Generation der Scheuklappen, die auf dem Gipfel der Errungenschaften ihrer Vorfahren in Lethargie verfällt? Das Ende der Unantastbarkeit des durch die Nachkriegszeit geprägten und sich immer mehr entfesselnden Kapitalismus? Die Vorzeichen eines neuen Weltkrieges ohne Armeen mit den Mitteln der Informationsvernichtung und -verfälschung und des Handels? Die Wiedergeburt der Demokratie durch Bildung und freien Informationsfluss und die Zeit der Rebellionen? Den Beginn neuer Völkerwanderungen und den Untergang der Nationalstaaten durch Fusion zugunsten großer Blöcke und Unionen?
Etwas davon sicher, und vieles was noch unvorstellbar ist - nur eines ist sicher: Der Fortschritt ist schneller als wir und wird uns sichtbarer abhängen. Bald wird die Ergonomie einen Paradigmenwechsel erleben, und der Anpassung von Technologien an den Menschen wird die Anpassung des Menschen an Technologien folgen. Als Meister der Anpassung und geborene Nomaden werden wir diese Herausforderung mit erschreckender Leichtigkeit bewältigen und uns stärker und nicht mehr nur geistig und technologisch von unserer Ursprüngen entfernen.

Und noch eines ist sicher: Trotz der rasanten Veränderungen wird es ein Zeitalter der Veränderungen und des Fortschritts nie geben. Denn die exponentielle Beschleunigung des Fortschritts durch Bildung und Elektronik hat gerade erst begonnen, und ein Ende ist unmöglich absehbar. Wir sind Wesen des Fortschritts und unsere Zeitalter heissen berechtigterweise nach dessen Stand. Nur ein Rückfall in ein "dunkles Zeitalter", wie nach dem Zerfall des römischen Reiches, könnte dem unwiderstehlichen Fortschritt Einhalt gebieten.
Hätten sich die technischen Errungenschaften der Antike mit der Erkenntnis ihres Potentials fortgeschrieben - wer weiß, wie weit wir schon sein könnten.
Ein Beispiel: Heron von Alexandria erfand zwischen 200 und 100 vor Christus eine Apparatur, die Tempeltüren unsichtbar und anscheinend wie von Geisterhand mit Dampfkraft öffnen konnte - das Potential seiner Dampfmaschine wurde aber nicht erkannt, bis sie 2000! Jahre später wiedererfunden wurde.
Andererseits - wir wissen nicht, wo der Fortschritt hinführt, doch folgen blind und versuchen alles, was in die Reichweite unserer Möglichkeiten gelangt (Ethikkommissionen können das kaum verzögern, geschweige denn verhindern). Vielleicht wären wir schon nicht mehr da, hätte es das dunkle Zeit- und Mittelalter mit der Neugewichtung von Glauben und Verstand zugunsten des Glaubens nicht gegeben. Vielleicht wären wir aber schon auf anderen Planeten, hätten die Glaubensfanatiker mit ihren Dogmen nicht das Potential des menschlichen Geistes unterdrückt - doch was sind schon ein paar Jahrhunderte Pause im Vergleich zu kosmischen Zeiträumen?

Könnten wir dann einfach pausieren, innehalten, nachdenken? Nein!
Denn die Kosten des Fortschritts, der Müll, die Zerstörung, die Spätfolgen und die hemmungslos wachsende Weltbevölkerung sind selbst zum eigentlichen Grund des Fortschritts geworden. Die ursprüngliche Neugier wurde ersetzt durch den Zwang, den bereits angerichteten Schaden durch Fortschritt zu beheben. Fortschritt als Selbstzweck, Fortschritt als Hoffnung, Fortschritt als einziger Ausweg. Auf dem Status Quo könnten wir unmöglich ausharren, denn wir leben von der Substanz und verändern, was uns hervorbrachte. Und das ist es, was uns von unseren Ahnen unterscheidet: Die Jäger und Sammler der Steinzeit, die Hethiter, Ägypter, Griechen, Kelten, Römer, Germanen, die Völker des Mittelalters und selbst die Aufklärer hätten alle die Wahl gehabt; Fortschritt betreiben und fördern können, oder stehen bleiben. Wir aber müssen, wir haben keine Wahl mehr, vielmehr unsere Wahl getroffen und können nicht mehr zurück.
So gibt es beispielsweise vielleicht auch deshalb keine Atom-Endlager, weil alle Entscheidungsträger diese unpopuläre und teure Lösung nicht verantworten wollen und insgeheim auf eine bessere technische Lösung in der Zukunft hoffen. Vielleicht wird dereinst in der Physik entdeckt, wie man radioaktiven Zerfall beschleunigt und die seltenen Elemente der Brennstäbe kontrolliert zu gewöhnlichem Blei wandeln kann. Vielleicht findet man aber auch in Zukunft neue Anwendungsgebiete für Atommüll oder jagt ihn mit sicheren Trägersystemen in den Kosmos. Das ist natürlich alles unbelegbare Fiktion. Der Bau teurer Atommüllendlager durch alle diese Technologie nutzenden Staaten und die tatsächliche Lagerung dort über viele, viele tausend Jahre ist aber zumindest genauso unrealistisch.

In der Kunstepoche des Barocks erreichte das Vanitas-Motiv seinen Höhepunkt - dabei sind Verfall und Nichtigkeit und der Konflikt zwischen Demut und Selbstbewusstsein vielleicht in der Tiefe das prägende Motiv unserer Zeit. Wir geben unsere Natürlichkeit zugunsten des Fortschritts auf - Implantate und Genmanipulation gibt es längst. Wir sind verunsichert, während rasend schnell Entwicklungen aufkommen und untergehen, die Informationsflut die Kapazitäten unseres Geistes längst übersteigt und der sichere Anker Religion mit seinem Universalerklärungsmodell stetig schrumpft. Wir klammern unser Wohl und Wehe an die unberechenbare und auf Dauer nicht zu haltende Variable Wirtschaftswachstum und kämpfen als Folge der Globalisierung mit dem Rückgang des Wohlstandsniveaus, welcher das steigende Wohlstandsniveau in den Schwellen- und Entwicklungsländern ausgleicht.
Der Fortschritt, die Veränderung, erweist sich paradoxerweise als die einzige Konstante.




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